Freiraum von Svenja Gräfen

Inhalt

Vela und Maren, seit über fünf Jahren zusammen, wollen nur eins: Ein Zuhause, das nicht auseinanderfällt, dessen Mietpreise nicht alle paar Monate steigt, das sie nicht unter konstanten Druck setzt, dass sie nicht ausreichend verdienen, dass sie etwas Bezahlbareres, Besseres finden müssen. Als auf dem Dorf ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, in einem riesigen Haus mit einem Haufen Menschen, die bunter nicht sein könnten, frei wird, können Vela und Maren ihr Glück kaum fassen, wagen es sogar, den Traum von einem eigenen Kind stärker werden zu lassen. Doch bietet dieses neue Zuhause das, was ihnen bisher fehlte?

Meine Meinung

Im vierten Semester schrieb ich eine Hausarbeit zu dem Verhältnis von Stadt und Land in Erich Kästners Fabian. Es gab kaum romanspezifische Sekundärliteratur zu diesem Thema, generell war die Lage der Sekundärliteratur wenig zufriedenstellend und irgendwann arbeitete ich mich dann lieber durch die Primärliteratur. Ich hatte viel Zeit für die Hausarbeit und recherchierte dementsprechend so viel, dass ich am Ende nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand, dass ich mehr als die geforderten Seiten schrieb und noch mehr hätte schreiben können. Der Stadt-Land-Diskurs hat mich seitdem nicht mehr losgelassen, in Literatur, in Serien, Filmen, irgendwie auch in mir selbst.

Als ich von Freiraum hörte, wusste ich daher sofort: Das muss ich lesen. Nicht nur ein Roman, der eine Beziehung zwischen zwei Frauen in den Mittelpunkt stellt, sondern einer, der diesen Diskurs nimmt und fortsetzt, der ihn auf unsere Zeit anwendet. Wie froh ich war, dass man auf der Buchmesse den Roman schon ein paar Tage vor Erscheinen kaufen, dass ich ihn sofort verschlingen konnte.

Das vorweg: Ich bezweifle, dass es richtige Antworten gibt, wie man die Stadt-Land-Spannung in moderner Literatur fortsetzen kann, aber Svenja Gräfens Antworten sind einfach großartig, so pointiert, so klug. Der Schreibstil ist täuschend leicht, geradezu umgangssprachlich: Anführungszeichen gibt es gar nicht erst, trotzdem weiß man immer, wer wann spricht, Sätze sind mehr Fragmente als alles andere, manchmal schiebt Gräfen einfach ein Komma zwischen zwei Hauptsätze und der Text fließt und fließt und fließt, entwickelt einen Sog, der mich dazu brachte, die letzten sechzig Seiten mit angehaltenem Atem zu lesen.

So einen Schreibstil muss man mögen, das ist klar. Ich selbst störe mich oft an umgangssprachlichen Formulierungen in Dialogen, wenn der restliche Text total steif und förmlich ist, aber da Gräfen das so konsequent durchzieht, ist es mehr, als wäre Vela direkt neben mir, würde mir ihre Geschichte erzählen, ungefiltert, unbeschönt. Einfach authentisch, so, wie es passiert ist, ohne Schnörkel. Obwohl Vela und Maren Anfang dreißig sind und die anderen Mitbewohner_innen sich in ähnlichen Altersregionen befinden, also wesentlich älter sind als ich, schaffte die ganze Atmosphäre des Romans ein immenses Identifikationspotential.

Gräfen gelingt es ziemlich gut, dem großen Cast einiges an Individualität trotz der begrenzten Seitenanzahl zu vermitteln. Es gibt Figuren, die blasser bleiben als andere, ja, aber ich hatte nie Probleme, sie auseinanderzuhalten, wusste immer, wer mit wem und wer was macht, wer wie drauf ist. Es gibt welche, die mir sympathischer sind als der Rest – Vela, Darek –, aber keine_r von ihnen ist perfekt, alle sind mehr oder weniger unvollkommen, was sie ja gerade so großartig macht.

Als ich Gräfen auf der Buchmesse lesen hörte, beschrieb sie Vela als Suchende, etwas, auf was der Roman immer wieder zurückkommt: Vela sucht nach einer besseren Wohnung, sie sucht Ruhe, sie sucht Erfüllung, sie sucht Geborgenheit, sie sucht ein Zuhause? In dem Stadt-Land-Diskurs, der sich Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland herauszubilden begann (und, ja, auch später von den Nationalsozialisten angeeignet wurde, siehe „Heimat“ als Kampfbegriff), wurde die Stadt oftmals als Bedrohung wahrgenommen. Als etwas, das krankmacht. Kein Wunder: Mit den Fabriken und bald den ersten Autos wurde die Stadt schmutziger, ungnädiger, die Arbeitslosenzahlen stiegen, nie gab es genug, aber immer zu viele Menschen. Es ist nicht länger die schmutzende, lärmende Großstadt, die im Vordergrund steht; zumindest Freiraum erweckte auf mich fast den Eindruck, als würde die Großstadt aktiv Menschen abstoßen, würde sagen: Hier hast du keinen Platz. Ich will nicht, dass du bleibst. Steigende Wohnpreise sind ein unglaubliches Problem in fast jeder Großstadt heutzutage, und das, obwohl wir die Großstädte brauchen. Dort arbeiten wir, dort geht es voran. Und doch scheinen uns die Städte (und selbstverständlich die Mechanismen, die hinter ihnen stehen) loswerden zu wollen.

Im Umkehrschluss galt das Land als ultimative Rückzugs- und Heilmöglichkeit. Als Gegenpol zur Stadt, als Möglichkeit, die strapazierten Nerven zu entlasten. Als bodenständig, dort, wo die Wurzeln sind. In Fabian ist das Land nicht mehr genug, um den gleichnamigen Protagonisten zu heilen, Fabian ist bereits zu krank. In Freiraum wird das Haus in dem abgelegenen Dorf, in das Vela und Maren ziehen, im wahrsten Sinne des Wortes als Freiraum verkauft – als heilender, wohltuender Ort:

Er sagt: Also, die Idee hier ist, tatsächlich eine Alternative zu schaffen. Freiraum. Einen Ort, an dem es um mehr geht als um so ein Nebeneinander.
(Svenja Gräfen: Freiraum, S. 10)

Wieder wird der Faden des jahrhundertealten Diskurses aufgenommen, aber weitergesponnen, vielmehr die Idee des heilsamen Landes überhaupt in Frage gestellt. Vielleicht, wird im Laufe des Romans aufgeworfen, vielleicht geht es gar nicht nur um Dorf vs. Stadt, vielleicht ist es an der Zeit, zu hinterfragen, welche Menschen diese Orte bewohnen. Hinzu kommt die Mobilität: Wie leicht es heute ist, von der Stadt zum Dorf zu fahren und umgekehrt, wie das mehrmals am Tag möglich ist.

Vela könnte keine geeignetere Protagonistin für diese Geschichte sein: Sie leidet unter der Welt, ist immerzu nervös, kann keine schnellen Entscheidungen treffen, ist stets von Gedanken und Überlegungen geplagt und leicht überfordert. Zwischenmenschliches fällt ihr schwer. Oft ist sie nur leise, ist die Person, die nie lernt, wie man sich in größeren Gruppen ins Gespräch einbringt. Dadurch wird sie automatisch zu einer Figur, an der vieles gespiegelt wird: das Verhalten ihrer Mitbewohner_innen, überhaupt ihr ganzes Umfeld. Neben ihrem eigenen Gedankenwirrwarr verinnerlicht sie die Sorgen und Geheimnisse der anderen, droht, selbst in der Unmenge an Empfindungen, die nicht ihre eigenen sind, unterzugehen. Damit sucht sie letztendlich auch nach ihrer eigenen Stimme, damit wird sie geradezu zum Symbolbild für all die, die noch nicht ihren Platz in der Welt gefunden haben, die, unter deren Füßen der Boden stets zu wanken scheint.

Zu guter Letzt ist es toll, wie mühelos Queerness in Freiraum repräsentiert wird, wie erwähnt wird, wie Darek mit einem männlichen Date unterwegs ist, dass ein anderer Mitbewohner sowohl Verhältnisse mit Frauen als auch Männern hat, bei Vela und Maren geht es um die Frage nach Nachwuchs. Zusammen mit der Stadt-Land-Thematik des Romans, mit der Ausführung, dem Schreibstil, den Charakteren – es ist kein Wunder, dass Freiraum mich auf voller Linie begeistert und mitgerissen hat.

Fazit

Freiraum ist ein Buch, das meine ohnehin schon existierenden Interessen nicht besser hätte treffen können. Der Stadt-Land-Diskurs, die Ausarbeitung der Charaktere, die ganze Atmosphäre haben mich begeistert. Gräfen stellt Fragen und bietet Antwortmöglichkeiten an, aber am Ende des Tages werden die Leser_innen dazu angehalten, ihre eigenen Lebens- und damit auch Freiräume zu hinterfragen. Absolute Empfehlung!

Freiraum ○ Hardcover: 304 Seiten ○ Ullstein fünf ○ Einzelband ○ 20€*


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Ein Kommentar

  1. Hallo Isabella,

    zugegeben, als ich die Inhaltsbeschreibungen durchlas, war ich maximal vage interessiert, aber deine Meinung hat mich jetzt doch ziemlich neugierig gemacht. Der Stil klingt ziemlich faszinierend und einfach auch mal nach etwas anderem, und die behandelten Themen durchaus interessant. Hmmm, vielleicht behalte ich das mal im Auge. Auf jeden Fall eine sehr gelungene Rezension!

    Liebe Grüße
    Dana

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