Karl Ove Knausgård ist letztes Jahr fünfzig Jahre alt geworden. Dennoch hat er ein beinahe fünftausend Seiten umfassendes autobiographisches Projekt in sechs Bänden abgeschlossen. Die deutschen Titel heißen Sterben, Lieben, Spielen, Leben, Träumen und Kämpfen. Das norwegische Original nennt sich Min kamp und ist durchnummeriert. Wenn man mich fragt, stellen die Bücher mindestens zweierlei Kampf dar: den von Knausgård mit sich selbst und den Kampf des Lesens.
Zugegeben, meine Überlegungen hier sind nur bedingt repräsentativ. Beim Schreiben dieses Artikels habe ich gerade den zweiten Band, Lieben, beendet. Aber das genügt ehrlich gesagt auch, um mich relativ sicher sein zu lassen, dass meine Gefühle, was Knausgård anbetrifft, vermutlich unvereinbar auf Ewigkeit in einem Kampf miteinander stehen werden.
Angerührt hätte ich die Bücher nicht, wenn sie nicht zu den Lieblingen einer Freundin zählen würden. Das und der erste Satz von Sterben brauchte es, um mich zur Lektüre zu bringen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon mehrere (Auto)Biographien gelesen, merkte aber ziemlich bald, dass Knausgård viele Dinge ablehnt, nicht zuletzt die traditionelle Vorstellung eines autobiographischen Werkes. Sehr präzise und gleichzeitig heillos ausufernd erzählt er aus seinem Leben; ein Gespräch mit seinem besten Freund Geir, das an einem Abend stattfand, wird auf dreißig, vierzig Seiten wiedergegeben, ein Ausflug zu einem Erlebnispark nimmt beinahe ein Zentel des Buches ein. Eines der Dinge, die mich zu Knausgård ziehen, ist gewiss die Art und Weise, wie er solche Banalitäten vermitteln kann, als handele es sich dabei um einen traditionellen Roman mit Spannungsbogen, wie er im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche vermittelt. Gleichzeitig erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich vor dem Buch sitze und mir denke: Unmöglich, dass sich jemand so genau an Gespräche erinnern kann.
Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann. Dann stoppt es.
Karl Ove Knausgård: Sterben, S. 7
Das soll keine Faktualität-Fiktionalität-Debatte vom Zaun brechen. Und erst recht werde ich nicht Knausgård seine Geschichte absprechen, aber diese Detailfülle ruft mir in Erinnerung, dass wir grundsätzlich dazu neigen, unsere Geschichten so wiederzugeben, wie wir sie für wahr halten, ohne jemals eine objektive Wahrheit anstreben zu können. Knausgård treibt dies zu einem Extrem. Auch Linda Boström Knausgård, seine zweite Ex-Frau, die einen immensen Platz in den Büchern einnimmt, sagt in einem Interview über seine Bücher, dass diese seine Wahrheit erzählen – so schmerzhaft diese Wahrheit auch für die Personen, über die er schreibt, sein mag.
Dennoch lesen sich die Bücher nicht wie eine klassische Autobiographie. Zum einen erzählen sie nicht chronologisch, im Gegenteil, massive Zeitsprünge geschehen mitten im Absatz und oft vergesse ich, wo das Buch begonnen hat, und erinnere mich erst wieder, wenn ich mit einem Mal dorthin zurückkehre. Andererseits finden sich massive essayistische Einschübe über alles Mögliche (wenn auch meistens Literarisches oder Philosophisches), Observationen, die weit über Knausgård hinausgehen (auch wenn er am Ende des Tages immer auf sich zurückkommt – zurückkommen muss). Und irgendwie, tja, irgendwie dachte ich auch, dass Biographien für a) verstorbene Menschen oder b) wirklich krass berühmte Menschen gedacht sind. Knausgård ist aber fünfzig, wie eingangs gesagt, und seinen Status als Weltliteraten (den ich, nebenbei bemerkt, gerne anzweifeln möchte) brachte ihn letztlich Sterben ein. Wirklich bizarr wurde es für mich erst, als ich während des Lesens von Lieben, das sich vorrangig um Knausgårds und Boströms Beziehung dreht, im Internet las, dass die beide seit mittlerweile drei Jahren geschieden sind. Mit einem Mal las ich das Buch mit anderen Augen: Zwar erzählt Knausgård die Höhen und Tiefen der Beziehung, aber am Ende des Buchs konnte ich mir nicht den Gedanken verkneifen, dass das nicht das richtige Ende war, dass dieses richtige Ende anderweitig zu verorten war, dass ich mehr wusste, als Knausgård während des Verfassens von Lieben wusste oder zumindest zugeben wollte. Es fühlte sich seltsam an. Vor allem aber machte es die Lektüre um einiges schmerzhafter.
Seien wir ehrlich: Da ist ein ordentlicher Teil von mir, der Knausgård verabscheut, der fragen will, wie es überhaupt jemand länger mit ihn ausgehalten hat und der seine Ex-Partnerinnen bemitleiden will und der sich dann zusammenreißt, weil es immer noch sehr reale Personen sind, über die ich gerade Überlegungen anstelle, und dass ich drohe, in einen Bereich zu schreiten, der mich überhaupt nichts angeht – obwohl Knausgård sechs Bücher darüber geschrieben hat. Damit sind wir auch schon bei meinem Kernkonflikt: Knausgård ist manchmal ein verflucht schrecklicher Mensch. In Lieben kommt heraus, dass er jahrelang verdrängt hat, eine Beziehung mit einer Minderjährigen gehabt zu haben. Er betont mehrmals explizit, wie wenig er sich um seine Familie kümmern will, dass er eigentlich nur schreiben will und alles andere Hindernisse auf dem Weg dahin sind. Ja, das teilt er auch seiner damaligen Frau mit. Ebenso, wie er ihr erklärt, dass er unbedingt drei Kinder möchte und das ist dann halt so. (Er wird drei Kinder kriegen.) Ein paar Monate nach der Geburt des ersten Kindes schläft er mit seiner Frau, verhütet nicht und fragt sie hinterher, ob das in Ordnung ist. Ganz unabhängig von der Zustimmung, die er erhält – im ersten Moment hat er immer noch über den Körper seiner Frau verfügt, ganz bewusst verfügen wollen.
Wir haben nichts zum Verhüten, flüsterte sie. Willst du nichts holen? Nein, sagte ich. Nein. Und als ich kam, kam ich in ihr. Das war das Einzige, was ich wollte.
Hinterher lagen wir lange wortlos nebeneinander auf der Couch.
„Jetzt bekommen wir noch ein Kind“, sagte ich nach einer Weile. „Bist du dazu bereit?“
„Ja“, sagte sie. „Oh ja, das bin ich.“
Karl Ove Knausgård, Lieben, S. 476
Das Ganze ist insofern entwaffnend, als Knausgård kein Blatt vor den Mund nimmt. Tendieren Menschen nicht dazu, sich so gut wie möglich darzustellen? Warum dann von all den verletzenden Dingen schreiben, von den hässlichen Worten oder üblen Streiten und davon, wie er eine Fledermaus mit einem Stein zermalmt hat? Merkt Knausgård nicht, dass sein Verhalten stellenweise alles andere als in Ordnung ist? Nein, manchmal ist die Sprache von Einsicht, auch im Text. Ist das hier noch die zensierte Version, sind die Dinge vielleicht sogar noch beschönt, abgemildert? Oder muss ich mich darauf berufen, dass das hier seine Wahrheit ist – dann komme ich nicht umhin, es wie eine Buße zu lesen, wie ein Geständnis. Es würde immerhin zu Knausgård passen, sich in die Reihe literarischer Gestehender – Augustinus, de Quincey, Rousseau – einzuordnen.
Ich kann ihm nicht mal ein riesiges Ego unterstellen. Halt, nein: Ich unterstelle ihm ein riesiges, unfassbares Ego, das immer dann durchschimmert, wenn er nicht gerade verzweifelt versucht, es zu unterdrücken. Es stößt mich ab und fasziniert mich gleichermaßen, Knausgårds Verhältnis zu (seiner) Männlichkeit. Schiebt er den Kinderwagen, fürchtet er, zu verweiblichen. Als Boström Knausgård in einem Badezimmer eingeschlossen ist, traut er sich nicht, die Tür einzutreten, und muss einen anderen Mann um Hilfe bitten, was er als persönliche Niederlage betrachtet, wonach er sich verhält wie ein verletztes Tier. Er ist unglaublich empfindlich für die Welt, geradezu überempfindlich (im wörtlichen Sinne): Jede zufällige Berührung kann für ihn von immenser Wucht sein. Andere Dinge, die mit seinem Leben kollidieren, ziehen emotional einfach an ihm vorbei. Obwohl er so viel teilt, kann ich mir nicht den Eindruck verkneifen, dass er dabei überlegt vorgeht. Nicht beim Schreiben, aber hinterher: Was erzähle ich, wann, wo? Was spricht er gar nicht erst an, was schlummert immer noch in seinem Unterbewusstsein? Wie kann er auf der einen Seite misogyn und auf der nächsten ein zärtlicher – wenn auch diesbezüglich beschämter – Vater sein? Besonders in Lieben postuliert er immer wieder einen Nihilismus und muss dann doch seine Geschichte – seine Wahrheit – in einem geradezu hedonistischen Reichtum erzählen.
Natürlich ist die Antwort darauf simpel: Individuen sind widersprüchlich, man könnte sogar sagen, dass sie gerade durch ihre Widersprüche spannend werden. Und ich muss mich auf diese Individualität berufen – denn wie es wäre, Knausgårds Romane als exemplarisch zu lesen, wage ich mir gar nicht auszumalen. Das ist das, was mir mitunter am meisten aufstößt, dieses generalisierende Zitat auf der Rückseite des Buchs: Knausgårds Bücher seien „[e]ine höchst aufschlussreiche Tauchfahrt in die männliche Gefühlswelt“. Geschrieben von einer Frau, was einen doppelt bitteren Geschmack hinterlässt. Vielleicht bin ich naiv, aber ich weigere mich, Sterben und Lieben als repräsentativ für die männliche Gefühlswelt zu lesen.
Vielleicht denkt ihr euch: Warum quält sie sich denn damit? Auch ich denke mir, dass ich seine Romane einfach nicht weiter unterstützen sollte. Aber ich habe auch erst kürzlich, mittlerweile einige Tage nach Beenden des zweiten Bandes, gedacht, wie gerne ich doch weiterlesen würde. „Gerne“ ist wohl das falsche Wort. Es gibt Passagen, in die ich mich verlieren kann, die ich sogar genieße. Die Empfindsamkeit, die Knausgård in seiner Vaterrolle doch mal durchschimmern lässt. Oder die Literatur-Essays, wenn ich das besprochene Werk kenne und innerlich mitdiskutieren kann. Die Bedeutsamkeit, die er im Alltäglichen findet. Und wenn ich lese, wie er sich vollkommen daneben verhält, wie er in Konflikte mit seinem Umfeld, mit sich selbst und seiner Männlichkeit gerät, dann warte ich auch irgendwie auf seine Läuterung. Auch wenn ich weiß, dass sie nicht kommen wird. Knausgård sieht keinen Grund zur Läuterung. Er redet in seinen Interviews genau wie in seinen Romanen. Und meine Güte, er ist keine Figur. Er ist ein Mensch.
Ja, ich werde weiterlesen. Ich werde die nächsten Bücher gebraucht kaufen und somit ihn immerhin nicht mehr direkt unterstützen, aber nach zwei Dritteln ist es zu spät, um aufzuhören. Es wird lange dauern. Entgegen des Feuilletons finde ich nicht, dass man diese Brocken verschlingen kann. Das geht vielleicht, wenn einem das Geschriebene nicht aufstößt, wenn man sich ausschließlich an den Überlegungen, an der Authentizität und an der Ästhetik erfreuen kann. Ich kann das nur bedingt.
Also, wie viel Raum braucht das männliche Ego? Wenn es nach Knausgård geht, mindestens 4624 Seiten.
5 Kommentare
Auch wenn ich keine Ahnung von den Büchern habe und den Autor erstmal googlen musste, finde ich den Beitrag wahnsinnig spannend. Du beschreibst deine Leseeindrücke einfach wunderschön und argumentierst so fantastisch, ich würde wohl auch einen Aufsatz über altes Brot von dir lesen.
Bisher ist mir Knausgard von deinen Schilderungen her nicht wirklich sympathisch, auch wie die Bücher verkauft werden, gefällt mir nicht wirklich. Also werde ich es wohl nicht lesen.
Ich bin gespannt, was du zum Rest dieser Reihe sagst, ob sich deine Ansichten nochmal ändern oder weiter bestätigt werden, ich würde ein abschließendes Fazit auf jeden Fall lesen wollen.
Alles Liebe
Friederike.
Wie lieb von dir, dankeschön! Ich hatte die Befürchtung, dass der Aufsatz ein bisschen zu … „nischenhaft“ ist, einfach weil sich der Diskurs über ihn (meinem Empfinden nach) vorrangig im Feuilleton abspielt. Aber freut mich, dass Interesse an einer Fortsetzung besteht 🙂
Alles Liebe
Isabella
Ich habe die Bücher schon oft gesehen, aber mich nie näher mit ihnen beschäftigt, daher hat dein Post mich jetzt endlich mal aufgeklärt. Lust seine Bücher zu lesen, habe ich überhaupt nicht, aber ich fand es enorm spannend deinen Gedanken zu ihnen und Knausgard als Phänomen für sich zu folgen. Richtig toll geschrieben hast du diesen Artikel.
Vielen lieben Dank! 🙂 Freut mich, dass der Artikel auch Anklang findet, wenn man seine Bücher nicht kennt.
Karl Ove Knausgård ist ein Spitzbube. Es ist kein Schrieben, sondern Aktivismus. Er schlabbert 6 Bände mit knapp 5000 Seiten raus, und wer es zuerst liest, ist der Dumme. Es soll ja gar nicht gelesen werden. So was stellt man sich in den Bücherschrank und dann ist es gut. Es ist eine Art Rekord um des Rekordes Willens. Übrigens ist die Idee des Banalen und der Egomanie schon on vielen ausprobiert und ausgereizt worden. Henry Miller hat auch nur über sich geschrieben. Langweilig wie irgendwas. Mediocre sogar. Aber eben Kunst.
Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied