Inhalt
Sam stirbt bei einem Autounfall – und durchlebt daraufhin denselben Tag noch weitere sechs Male. Jedes Mal hat sie eine neue Chance, Dinge zu ändern, vielleicht sogar zu richten – doch geht es überhaupt darum, ihr Leben zu retten?
Meine Meinung
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie sahnt nicht nur den Preis für den sperrigsten deutschen Titel aller Zeiten ab, sondern gehört auch zu den Büchern, die schon seit Jahren in aller Munde sind. Als ich das Buch gewann und darüber hinaus der Film bei Amazon Prime verfügbar war, wertete ich das als Zeichen. Ich wusste nicht recht, was mich erwarten würde, und vielleicht war das auch gut so – hätte ich höhere Erwartungen gehabt, wären diese nämlich enttäuscht gewesen.
Das Buch erschien vor mittlerweile acht Jahren, und doch habe ich das Gefühl, dass es aus der Masse von Young Adult-Büchern hervorsticht, vielleicht sogar in mancherlei Hinsicht den Ton angegeben hat. Sam ist nämlich nicht nur eine nette, harmlose Protagonistin, nein – zusammen mit ihren Freundinnen ist sie schlichtweg ein gemeines, oberflächliches Mädchen, das ihre MitschülerInnen schikaniert und auf sie herabblickt. Ihre Beliebtheit und der Zusammenhalt mit ihren Freundinnen haben höchste Priorität, alles andere kümmert sie nicht. Das an sich finde ich grandios, dass man auch Mädchen den Raum gibt, etwas anderes als schüchtern und dauerhöflich zu sein. Normalerweise wird nur männlichen Figuren das zugesprochen, deshalb gefiel mir die Idee, den Spieß umzukehren, sehr gut.
Gleichzeitig liegt dort einer meiner größten Kritikpunkte – ja, ich finde es gut, dass wir eine so unbequeme Protagonistin haben. Ich bin dennoch immer hin- und hergerissen, wenn ihr Verhalten nicht kritisiert wird, also, im Text. Natürlich weiß ich als Leserin, dass es nicht okay ist, andere Mädchen verbal und auch körperlich fertig zu machen. Andere nach dem Aussehen zu beurteilen und als „Psycho“ zu betiteln, wenn sie nicht den Standards entsprechen. Aber im Text wird das nie direkt vermerkt, bestenfalls subtil von dem Love Interest (dazu gleich mehr) kritisiert. Ja, Sam versucht, die Dinge zu ändern; aber versucht sie wirklich, etwas besser zu machen, oder sucht sie nur nach einem anderen Weg?
Ich verstehe, dass das eine Grundsatzdiskussion ist, und ich verstehe auch, dass die Meinungen sich da spalten werden – ähnliche Unterhaltungen habe ich über 13 Reasons Why geführt. Ich mag‘s persönlich einfach nicht, denn ich frage mich immer, was, wenn jemand das nicht so abgekapselt lesen kann? Denn letztendlich zeigt Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie doch zwei Dinge: dass die bösen Menschen davonkommen, und dass es für die Betroffenen keine Lichtblicke gibt.
Ein anderer, kleinerer Kritikpunkt geht in eine ähnliche Richtung; und zwar schneidet Oliver am Rand immer andere, prekäre Themen an, die dann doch nicht richtig ausgeführt oder ausführlich thematisiert werden, weshalb ich mir persönlich wünschte, dass sie einfach gar nicht erst erwähnt worden wären. (Und ich meine ja nur: Das Buch hat beinahe 450 Seiten, es fühlt sich sehr lang an, meines Empfindens nach hätte man den Nebenfokus ganz anders legen können.) Da ist zum Beispiel Ally, bei der angedeutet wird, dass sie eine Essstörung hat; sie ist besessen mit Kochshows, isst aber bestenfalls ein Viertel von dem Gekochten etc. Lindsay wird sogar von Sam beim beabsichtigten Erbrechen „erwischt“, doch Sam spricht sie nur einmal halbherzig darauf an. Natürlich ist Sam weder verpflichtet noch in einer Position, ihre Freundinnen zu „heilen“ oder ihnen Hilfe zu verschaffen – aber noch einmal, was sagt das denn? Dass man solche Dinge einfach ignoriert, auch in einer engen Freundschaft? Dass man sie lieber totschweigt, anstatt eventuell aufzuzeigen, dass es Hilfe gibt, dass man Hilfe empfangen kann und darf?
Wie ich bereits gesagt habe, glaube ich einfach, dass andere Schwerpunkte dem Buch gutgetan hätten. Stichwort: Insta-Love. Sam ist anfangs in einer Beziehung mit Rob, die, sagen wir, aus guten Gründen nicht lange anhält. Was irgendwie gut ist, denn damit wird immerhin aufgezeigt, dass Robs Verhalten nicht okay ist, und Sam trifft die Entscheidung bewusst. Dann kommt aber Kent ins Spiel: Kent, der Kindheitsheld. Kent, der Sam einzig und allein aus dem Grund mag, weil sie ihm einmal als Kind geholfen hat. Und seitdem schaut er seit Jahren zu, wie sie sich böswillig gegenüber sämtlichen Mitmenschen außer ihren Freundinnen verhält und feiert sie immer noch total und schreibt es sich total auf seine Kappe, sie auf den richtigen Weg zu bringen. Denn er durchschaut sie. Wow. So romantisch. Ihr könnt euch denken, wo das hinführt.
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie soll ein Buch über die Dinge sein, die wirklich zählen, wenn das Ende naht. Aber irgendwie kam diese Nachricht zu mir nicht durch. Zu stark war der Eindruck, dass es letztendlich nur darum geht, dass Sam ihre Freundinnen wertschätzt und sich nebenbei noch einen süßen Typen angelt. Das ist jetzt überspitzt formuliert, denn ich mochte es wirklich, dass gezeigt wurde, dass Sam ihre Freundesgruppe wertschätzt und von Herzen liebt – ich konnte das nur nie ganz von den Aussagen und Handlungen trennen, die ich nicht gutheiße. Darüber hinaus hätte ich gerne mehr über Sams Familie erfahren; ihre Schwester wird als Einzige etwas ausführlicher vorgestellt, aber Vater und Mutter bleiben blass. Dabei hatte ich das Gefühl, dass zumindest im Ansatz gezeigt wurde, dass Sam mit ihren Eltern (sehr) gut auskommen könnte – es schien nur am Ende nicht wichtig genug zu sein?
Ihr seht, ich bin hin- und hergerissen. Das Buch ließ sich leicht lesen, ja, und es gab ein paar Passagen, die mir echt gut gefielen. Gerade Kent wuchs mir doch sehr ans Herz, obwohl ich diese Kindheitsheld-Geschichte überspitzt finde. Gleichzeitig zog es sich, und als ich es beendete, hatte ich nicht den Eindruck, auch nur irgendetwas mitgenommen zu haben.
Der Film
Der Film Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie ist eine überraschend getreue Buchadaption. Auch wenn ich normalerweise zu der Kategorie gehöre, der es egal ist, wie getreu die Verfilmung ist, solange sie in sich stimmig ist, war das Schauen eine zweierlei interessante Erfahrung. Einmal, weil ich quasi zu der Geschichte die Bilder erhielt; andererseits, weil sich dadurch die Probleme des Buchs automatisch auf den Film übertrugen.
Heißt: Obwohl der Film neunzig Minuten lang ist, konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihn konzentriert am Stück zu gucken. Vielleicht lag das auch daran, dass ich die Geschichte bereits kannte. Lindsays essgestörtes Verhalten wurde vollständig ausgelassen, Allys wird angedeutet, aber das merkt man vermutlich nur, wenn man darauf achtet. Auch wurde ein meines Erachtens unnötiger Subplot ausgelassen, was zumindest die Handlung etwas mehr konzentrierte.
Leider wurde mir Sams Verhalten und das ihrer Freundinnen immer noch nicht ausreichend problematisiert, ihre Eltern blieben blass und auch Kent konnte mir nicht recht ans Herz wachsen. Dafür mochte ich die Szenerie unglaublich gern, überhaupt die Darstellung von Sams Freundesgruppe. Wenn sie nicht gerade MitschülerInnen fertigmachen, ist ihre Freundschaft wirklich grandios und wirkt einfach authentisch. Und die Darstellung des Endes war um einiges pointierter, trieb mir die Tränen in die Augen und schaffte es, im Gegensatz zum Buch, zumindest einen Nachhall zu hinterlassen.
Es gibt allerdings ein Aber – ein großes. Trigger-Warnung: Vergewaltigung. Während Sam und Rob im Buch nie Sex haben (was Rob weniger toll findet), kommt es im Film dazu. Es wurde bereits im Vorfeld deutlich, dass sich Sam nicht (recht) bereit dazu fühlt; auf einer Party macht sich dann Rob betrunken an sie heran. Sam gibt niemals ihr Einverständnis, die Kamera schwenkt ihr auf Gesicht, das sich in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Verzweiflung zur Seite dreht. Nach dem Geschlechtsverkehr flüchtet sie und bricht in Tränen aus. Nichts davon wird wieder thematisiert. Grandios, einfach grandios. Aber Hauptsache, wir geben den Zuschauern etwas Aufregend-Dramatisches, nicht wahr?
Fazit
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie konnte mich weder als Buch noch als Film recht überzeugen. Während ich manche Aspekte erfrischend finde, habe ich nicht das Gefühl, dass Sams Verhalten (und das ihrer Mitmenschen) so kritisch besprochen wird, wie ich es mir wünschen würde. Den Hype kann ich nicht wirklich nachvollziehen, das große Aha blieb bei mir aus. Es ist immerhin schön, zu sehen, wie stark sich YA seitdem entwickelt hat.
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie ⚬ übersetzt von Katharina Diestelmeier ⚬ Taschenbuch: 448 Seiten ⚬ Einzelband ⚬ Carlsen Verlag ⚬ 8,99€*
Weitere Meinungen:
Gedankenfunken
Jacquy‘s Thoughts (3/5)
5 Kommentare
Ich habe das Buch irgendwann vor Jahren mal gekauft, angefangen und irgendwie nie beendet. Seitdem steht es halb gelesen im Regal und mittlerweile glaube ich nicht, dass ich das Buch jemals beenden werde. Ich kann mich noch dran erinnern, dass ich das Buch ziemlich langatmig fand und ich die Hauptpersonen einfach nicht mochte, eben weil sie so gemein waren. Vielleicht würde ich das mittlerweile mehr zu schätzen wissen, dass man eine – wie du es genannt hast – unbequeme Protagonistin hat… aber irgendwie habe ich trotzdem recht wenig Lust auf das Buch, vor allem weil es bei dir ja auch nicht soo gut weg kommt 😀 Allerdings bin ich jetzt sehr gespannt auf den Film, den habe ich auch schon länger auf meiner Watchlist, irgendwie habe ich ja die Hoffnung, dass mir die Geschichte in dem Medium etwas besser gefällt, den werde ich mir jetzt wo ich ihn wieder mehr auf dem Schirm habe bald mal angucken müssen 😀
Ganz im Ernst, da verpasst du wirklich nicht viel. Es gibt noch einen relativ interessanten Plottwist, und das Ende könnte schlimmer sein, aber im Großen und Ganzen … lohnt sich das nicht. Aber ich bin gespannt, was du zu dem Film sagst! 🙂
Ich wollte dir gerade schreiben, was ich vom Buch halte und habe dann gesehen, dass meine Rezension verlinkt ist 😀 Danke dafür! (Das Layout sieht jetzt auch nicht mehr ganz so schrecklich aus, ups)
Du sprichst ein paar Dinge an, die mir damals nicht bewusst waren, die aber wirklich wichtig sind. Die Esstörungen hätten auf jeden Fall irgendwie thematisiert werden müssen, auch wenn darauf ja nicht der Fokus liegt. Wenn sie in die Geschichte eingebracht werden, dann muss mit solchen Aspekten auch irgendwas geschehen.
Den Film habe ich mir nicht angeschaut, weil ich die Wiederholungen schon im Buch langweilig fand und mir nicht vorstellen konnte, dass es im Film sehr viel besser ist. Die Vergewaltigung klingt aber tatsächlich wirklich unnötig und nur für künstliches Drama eingebaut. Wenn darüber dann nicht mal gesprochen wird, ist das das letzte.
Super Rezension!
Genau das ist es eben – wenn man nicht in der Lage ist, einen Aspekt angemessen zu repräsentieren oder auch nur zu thematisieren, dann ist es vielleicht sinnvoller, es lieber sein zu lassen. So habe ich über die Stellen nur den Kopf schütteln können. :/
Und ich kann gut verstehen, dass dich der Film wenig reizt. Die Wiederholungen dort sind nicht ganz so anstrengend wie im Buch, aber, naja, im Großen und Ganzen ist es halt immer noch dasselbe. Dass die es dann noch nötig meinten, eine Vergewaltigung in den Raum zu schmeißen … nee. Einfach nee.
Danke dir!
Schade, dass dir das Buch nicht so sehr gefallen hat. Es steht in meinem Regal, ich habe es vor einer Weile geschenkt bekommen und möchte es demnächst auch lesen.
Neri, Leselaunen