Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen. Vor Das Lied des Propheten hatte ich bereits drei Romane von Lynch gelesen und wenn auch ich mir bei jedem von ihnen dachte: Also, so was hab ich noch nie gelesen!, war das leider kein positives Sentiment. Sie alle hatten wenig Plot, der zuweilen von einer lyrischen Sprache erhellt, schließlich aber immer mehr von ihr erdrückt wurde. Und vor allem waren sie die durchweg düstersten Bücher, die ich jemals gelesen hatte. Tja, Isa, könnte man jetzt sagen: Bereits im Klappentext von Das Lied des Propheten steht, dass es um Eilish geht, die nicht weiß, wie ihr geschieht, als sich in Irland ein totalitäres Regime ausbreitet. Nachdem ihr Mann und Gewerkschafter Larry eines Nachts von der Polizei abgeführt wird, ist Eilish allein mit ihren vier Kindern und der Sorge um ihren dementen Vater. In einem immer fremder werdenden Land wird sie vor unmögliche Entscheidungen gestellt.
Ja. Das stimmt ja alles. Und es hat mich intensiv darüber nachdenken lassen, ob Lynchs Umgang mit solchen Themen (wobei auch das noch im Vergleich zu seinen vorigen Romanen fast schon harmlos ist!) mir einfach nicht behagt, oder überhaupt welche Erwartungen ich an Literatur stellen kann – aber da kommen wir lieber später noch mal drauf zurück.
Ist das noch Dystopie oder schon Realität?
Wenn man an Dystopien denkt, dann kommen einem sofort die großen Werke des 20. Jahrhunderts in den Sinn: Zamjatins Wir, Huxleys Brave New World oder Orwells Nineteen Eighty-Four. Wir denken an Protagonisten, die kein anderes Leben als das Regime kennen, und an Handlungsstränge des – mehr oder weniger erfolgreichen – Widerstands. Autor*innen, die sich in die Gattung einschreiben, müssen sich nicht nur mit wirkmächtiger Literaturgeschichte auseinandersetzen, sondern dabei eine eigene Position zwischen den bekannten Mustern und dem Reiz des Neuen finden.
Für mich ist das die stärkste Leistung von Das Lied des Propheten: dass der Roman nicht seine Leser*innen mit einem geschlossenen System konfrontiert, sondern am bröckelnden Alltag ansetzt. Geschildert wird ein schleichender Prozess von unterdrückten Aufständen über Verhören hin zu immer restriktiveren Auflagen, die schließlich in Ausgangssperren, Festnahmen, kurzum: Krieg münden. Es ist leicht, im Rückblick zu sagen: Natürlich musste es so enden. Schwieriger, und das gelingt Lynch sehr gut, ist es, wenn die Verwirrungen der Gegenwart immer diffuser werden, bis man nicht mehr weiß: Was ist geschehen? Und wie bin ich hier gelandet?
Wir sind doch beide Wissenschaftler, Eilish, wir stehen in einer Tradition, aber Tradition ist doch nichts weiter als das, worauf sich alle einigen können – die Wissenschaftler, die Lehrer, die Institutionen, und wenn du den Besitz der Institutionen ändern kannst, dann kannst du auch den Besitz der Tatsachen ändern, du kannst die Struktur des Glaubens ändern […].
Paul Lynch: Das Lied des Propheten. Stuttgart 2024, S. 27
In den Rezensionen zum Roman wird selbstverständlich auch immer auf die Nähe zu unserer Gegenwart verwiesen. Das Lied des Propheten sei eine Warnung, dass wir die autoritären Tendenzen – oftmals wird der Roman auch als Ausspruch gegen Rechts gelesen, obwohl er sich ideologisch nicht festlegt – unserer Gegenwart aufhalten müssen, ehe es zu spät ist. Hier habe ich zwei Vorbehalte: Zwar kann ich das Argument rational nachvollziehen, aber da der Roman ein durchweg düsteres Bild zeichnet und alle Hoffnung schnell im Keim erstickt, fällt es mir schwer, von dort heraus zu handeln und nicht einfach im Angesicht eines überwältigenden Pessimismus zu resignieren. Zweitens drängte sich mir immer stärker die Frage auf, ob Lynch denn eigentlich eine Dystopie oder eine Flüchtlingsgeschichte schreibt.
Wiederholt wird im Roman auf die Perspektive von außen angespielt: Umso bedrohter ihr Leben in Irland wird, desto mehr Aufruhr muss es doch in den anliegenden Ländern geben, davon ist Eilish fest überzeugt. Wenn die Nachrichten nur groß genug werden, werden andere Regierungen intervenieren. Ihre in Kanada lebende Schwester versucht, ihr eine Flucht zu ermöglichen, doch Eilish ist sich sicher, sie will bleiben, Hilfe wird kommen. Aber dabei geht es nicht nur um die Frage, wie man aufwiegen soll, ob der Aufenthalt in einem Kriegsgebiet oder die Flucht ins Ungewisse mehr Gefahren birgt. Damit zeigt Lynch auch,
[…] dass am Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen, das in die Folklore eingegangen ist […].
Paul Lynch: Das Lied des Propheten. Stuttgart 2024, S. 306
Wie kann man hier nicht einen Bezug auf die Kriege unserer Gegenwart lesen – auf die Sensation, die globale Entrüstung, der Sturm in den Nachrichten, der ebenso schnell wieder abklingt, wenn das nächste Verbrechen begangen wird, oder auch nur, wenn die Aufmerksamkeitsspanne sinkt. Obwohl die Krise fernab der Bildschirme weiter existiert und die Betroffenen dazu verurteilt werden, alleine Lösungen zu finden.
Aber: Geschichten von Flucht, und das ist Das Lied des Propheten auch, gibt es nicht erst seit der jüngsten Gegenwart. Dass ausgerechnet ein Buch, das ein westeuropäisches Land in den Blick rückt, dieses Phänomen für uns nahbar machen soll – nun, das hat bei mir einen schalen Geschmack hinterlassen.
Warnung oder Resignation?
Und damit kommen wir zurück zum Anfang dieser (womöglich etwas ausgearteten) Rezension. Wie oben schon angedeutet, ist das Geschehen in Das Lied des Propheten verworren, ganz gemäß dem zunehmenden Zerfall des irischen Staates. Dieses Verworrene überträgt sich auch auf die Leseerfahrung. Wer Paul Lynch liest, muss sich auf lange Paragraphen mit schier unendlichen Sätzen einstellen. Seine Sprache ist dicht und rhythmisch organisiert: Man kann dabei den Faden verlieren oder sich auch von ihrer Schönheit mitreißen lassen.
Diese Ambivalenz habe ich bei meinen Lektüren nie auflösen können. Wenn in der Poesie die Stimmen einzelner Figuren so untergehen, dass ich diese kaum noch voneinander unterscheiden kann, wenn sie die Empfindungen ebendieser Figuren unterdrückt und bei mir mehr Unverständnis als Einfühlung aufruft, frage ich mich zunehmend, ob sie noch zweckgemäß ist. Ganz zu schweigen davon, dass ich, umso mehr sich das Geschehen verdüstert, auch immer stärker mit der blumigen Sprache fremdelte. Vielleicht könnte man einwenden, dass es sich dabei um das Gespür für eine Schönheit trotz allem handelt. Auf mich wirkte es schlichtweg deplatziert.
Und wie viele Nerven ich wegen Eilish verloren habe! Wenn man den Inhalt des Romans zusammenfasst, habe ich immer fast das Gefühl, dass sie zu gut wegkommt. Statt ihren Kindern, die schreckliche Angst haben, mit Empathie zu begegnen, schweigt sie das Geschehen tot, fährt ihnen über den Mund oder begegnet ihnen mit Aggression. (Keine Sorge, was hier gegendert klingt, ist zumindest in Lynchs Werkkontext nicht der Fall – seine Familienväter sind ähnlich fragwürdig!) Natürlich kann ich mich nicht hineinversetzen, wie man sich tatsächlich verhält, wenn die vertraute Welt zusammenbricht, und ich will mir erst recht nicht anmaßen, dass man kluge oder auch nur richtige Entscheidungen treffen kann. Und bestimmt kann man eine Lanze dafür brechen, dass mit dem klassisch-dystopischen Heldennarrativ gebrochen wird – sind nicht die meisten von uns Mitläufer? Aber das erscheint mir eine sehr zynische Lesart von Eilishs lähmender Passivität.
Allerdings meine ich genau das: Es ist geradezu unmöglich, aus der Lektüre des Romans mit nur einem Funken Hoffnung herauszugehen. Der Staat versagt, klar, aber auch auf das Zwischenmenschliche, scheint Lynch zu suggerieren, kann man nicht zählen. Am Ende kämpft jede*r für sich selbst, und das bedeutet, dass jede*r alleine scheitert. Muss Literatur Hoffnung vermitteln? Natürlich nicht, aber wenn sie nicht einmal einen Möglichkeitsraum dafür schafft, frage ich mich, was sie noch zu bewirken erhofft. Persönlich habe ich mich vom Roman weniger gewarnt als erschlagen gefühlt. Wenn es so weitergeht, wird genau das passieren!, scheint er zu drohen. Aber was wir dagegen tun sollen, weiß ich auch nicht.
Das Lied des Propheten ⚬ übersetzt von Eike Schönfeld ⚬ Hardcover: 320 Seiten ⚬ Klett-Cotta ⚬ 26€ ⚬