Inhalt
Charlie und Thomas sind Kinder einer Welt, in der Sünden, falsche Gedanken und Lügen durch Rauch sichtbar werden. Sie gehen auf ein Elite-Internat, wo ihnen beigebracht wird, wie sie den Rauch auf ein Minimum reduzieren können. Doch mit der Zeit beginnen sie, die Gesetzlichkeiten des Rauches zu hinterfragen – und decken eine Verschwörung nach der anderen auf, in Dimensionen, die sie kaum erahnen können.
Meine Meinung
Smoke klang so vielversprechend. England im 19. Jahrhundert. Ein mysteriöser Rauch, die Frage nach Gut und Böse, darin zwei Heranwachsende.
Und die ersten 100 Seiten schienen mir auch genau das zu bieten. Wir lernen Charlie und Thomas kennen, die nicht nur beste Freunde sind, sondern eigentlich das Einzige sind, das der jeweils andere hat. Die Schule wird als eine erschreckende Institution beschrieben, mit dem Mitschüler Julius, der nachts alle zusammentrommelt und sie nach dem Zufallsprinzip auf ihre Sünden prüft. Doch dann naht Weihnachten. Thomas und Charlie machen sich zu Thomas‘ Onkel auf, und ab da geht die Geschichte, gelinde gesagt, den Bach runter.
Aber noch mal einen Schritt zurück, zu Thomas und Charlie. Vyleta hat mit ihnen nicht nur eine besondere, innige Freundschaft geschaffen, sondern auch ein Paar, das gegensätzlicher nicht sein könnte. Thomas‘ Eltern sind tot; sein Vater war ein Mörder, er fürchtet, ebenfalls der Sünde zu verfallen. Charlie hingegen ist in einem reichen Elternhaus aufgewachsen, seine Hemden sind quasi nie mit irgendwelchem Ruß (das Resultat des Rauches) befleckt. Ihre Freundschaft scheint unter schlechten Voraussetzungen zu stehen, doch in Wahrheit behandeln sie sich vorbehaltlos, erzählen sich alles und sind einfach füreinander da. Die Freundschaft der beiden war etwas, das mich durchweg durch das Buch beeindruckt hat.
„Du hättest es mir erzählen sollen. Ich bin dein Freund!“
[…]
„Ja. Aber wirst du es auch noch sein, wenn ich jemanden umbringe?“
(Smoke, Dan Vyleta, carl‘s books)
Das Ganze hat aber eine Kehrseite. Eine ziemlich paradoxe, um ehrlich zu sein. Trotz der 600 Seiten, die das Buch fasst, hatte ich nach dem Zuschlagen der letzten Seite das Gefühl, nicht viel schlauer geworden zu sein – egal, auf welcher Ebene.
Wie gesagt: Vyletas Idee ist grandios. Aber es ist, als er hätte er einen Samen gepflanzt und wäre nie zurückgekommen, um die Ernte zu holen. Smoke ist eigentlich ein passender Titel, denn die Geschichte ist auch mehr Rauch als alles andere – die Idee einer Idee, eine Sammlung vieler Ansätze und nichts Handfestem. Obwohl sich Thomas, Charlie und Livia (auf die komme ich später noch zurück) auf die Suche nach Antworten begeben, „erhalten“ sie diese nur mit Anführungszeichen. Bitten um Erklärung werden meist beantwortet, dass man es dem Fragenden „zeigen“ werde, aber stattdessen bekommt man eine schwammige Vorführung und eine dürftige, ein paar Zeilen lange Erklärung. Selten habe ich mir bei Büchern eine längere Erklärung gewünscht, aber hier hätte ich selbst Infodumping mit offenen Armen empfangen. Dutzende, hunderte Seiten lang werden Fragen gehäuft und mehr oder weniger viel Spannung angesammelt… doch als Leser bleibt man in der Luft hängen.
Darunter gehört unter anderem die Frage, wie der Rauch ersteht – die Erklärung fand ich so an den Haaren herbeigezogen, dass ich mir lieber keine gewünscht hätte. Auch werden immerzu verschiedene Farben des Rauches beschrieben, deren Bedeutungen man nur erahnen kann. Es ist wirklich ein Jammer, und einer, der mich während des Lesens einfach an den Rand der Verzweiflung trieb. Ich frage mich immer noch, ob Vyleta einfach zu subtil gearbeitet hat, oder ob ich schlichtweg zu blöd war, um‘s zu verstehen.
Doch Zweidimensionalität ist auch bei Charlie und Thomas zu finden. Obwohl man sich mit dem Charakter der Jungen ausgiebiger beschäftigt, wird ihre Vergangenheit höchstens im Nebensatz erwähnt. Als wären sie mit 16 Jahren auf das Papier getreten und hätten nur vage Schatten hinter sich. Wieder war ich frustriert.
Ich kann leider auch verallgemeinernd sagen, dass die Motivation sämtlicher Charaktere ein bisschen rätselhaft ist und bleibt. Wer auf welcher „Seite“ ist bzw. wer für was kämpft, wurde mir bis zum Ende nicht klar.
Mein größter Kritikpunkt, den ich in anderen Rezensionen so noch gar nicht gesehen habe (was mich schockiert), ist jedoch die Liebesgeschichte bzw. die weiblichen Charaktere in Smoke. Kurz gefasst: Es wird eine junge Frau, Livia, eingeführt, in die sich tatsächlich sowohl Charlie als auch Thomas verlieben – und vice versa. Es geht mir aber weniger um die Dreiecksgeschichte (obwohl die allein mich schon zur Weißglut bringen könnte) als um die Art und Weise, wie sie beschrieben wird.
„Was hältst du von ihnen?“
[…]
„Die Mutter ist ganz Parfüm und Charme. Und die Tochter [Livia]-„
„Teerseife und Gebetsbücher!“
(Smoke, Dan Vyleta, carl‘s books)
Grundsätzlich gibt es keine Frauenfigur in Smoke, bei der nicht an irgendeinem Punkt das Aussehen kommentiert oder die als Verführerin dargestellt wird. Hier noch einmal Livia, die einem Mann ihre Wange anbietet:
„Möchten Sie mich küssen? Nur zu. Ihre Frau wird es nie erfahren.“
Er tut es, flüchtig, schüchtern wie ein Kind.
„Oh, Sie Wüstling!“
(Smoke, Dan Vyleta, carl‘s books)
Auch Thomas‘ Gedanken werden meiner Meinung nach sehr bedenklich dargestellt:
Wie leicht es ihr mittlerweile zu fallen scheint, ihn anzufassen. Der Gedanke macht ihn wütend.
(Smoke, Dan Vyleta, carl‘s books)
Und das sind nur ein paar wenige ausgewählte Beispiele. Ich habe dutzende Bemerkungen im Buch gefunden, manche noch erschreckender als die anderen. Solche Äußerungen sind schlichtweg erschreckend und sollten nicht in einem Buch stehen. Vor allem sollten sie niemandem als Vorlage dienen (können).
Ich muss generell eine Warnung für das Buch aussprechen, denn zum einen gibt es ein paar (wenn auch realitätsferne) explizite Szenen, in denen Gewalt angewandt wird. Außerdem gibt es tatsächlich eine Stelle, in der ein Charakter von selbstverletzendem Verhalten spricht bzw. dieses beschreibt. Um niemanden zu triggern, werde ich die Stelle nicht zitieren.
Wenn ich Dan Vyleta eines lassen muss, dann ist es der Schreibstil. Grundsätzlich ist der Aufbau des Buches sehr neuartig – es wird abwechselnd aus der dritten Person Präsens und der ersten Person Präsens eines Nebencharakters erzählt. Das habe ich nie so gesehen; vor allem funktioniert es bei Smoke sehr gut und bringt Abwechslung in das teils zähe Geschehen mit hinein. Und Vyleta kann wirklich fantastisch schreiben. Er flicht Weisheiten in seinen Text, die man einfach nur abnicken möchte.
Worte sind wie Rauch, entdecke ich: Lässt man sie erst einmal hinaus, vermehren sie sich unkontrolliert.
(Smoke, Dan Vyleta, carl‘s books)
Aber der Schreibstil rettet auch nicht über die Probleme des Buches hinweg. Und niemals über die tiefergehenden, über die Äußerungen, die einfach nur noch erschreckend sind. Smoke soll ein Buch über Moral sein, über Gut und Böse, und das ist es auch die ersten hundert Seiten lang. Es ist nur irgendwie vom Weg abgekommen und ins Abseits gerutscht.
Fazit
Smoke ist mehr Schein als Sein. Die Idee, die ersten einhundert Seiten und der Schreibstil des Autors können was. Der Rest wird nur oberflächlich angekratzt; Charaktere und Geschichte bleiben zweidimensional und ziehen sich gewaltig. Was letztendlich den Ausschlag gab, sind bedenkliche Aussagen, die sich durch das Buch hindurchziehen – keine Empfehlung von mir. Solche Bücher sollte man nicht unterstützen.
Smoke ⚬ Paperback: 624 Seiten ⚬ carl‘s books ⚬ Einzelband ⚬ 16,99€ ⚬
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Ein Kommentar
Wie schon auf Goodreads geschrieben – schaaaade, dass das Buch so schlecht war!
Der Klappentext klang echt klasse und auch die Grundidee fand ich unglaublich spannend. Aber die von dir beschriebene grauenvolle Darstellung von weiblichen Figuren geht eben echt überhaupt nicht – deswegen spare ich mir das Buch! 😀