[Rezension] The Distance from me to you — Marina Gessner

Inhalt

Kendra und ihre beste Freundin Courtney haben einen gemeinsamen Plan: In dem Sommer nach ihrem Schulabschluss wollen sie den 3500km langen Appalachian Trail bewältigen. Doch in der letzten Sekunde entscheidet sich Courtney, zu Hause zu bleiben.
Kendra will die Wanderung trotzdem durchziehen, und so startet sie alleine. Auf dem Trail trifft sie auf Sam, der vor seiner Vergangenheit fliehen will, und die beiden stürzen sich in eine Beziehung.

Meine Meinung

Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen.
In letzter Zeit bin ich den „klassischen“ Jugendbüchern à la Girl meets Boy aus dem Weg gegangen. Weil ich kein Fan von den Liebesgeschichten war, weil sie bestenfalls schlecht und schlimmstenfalls katastrophal dargestellt wurden. Dennoch entschloss ich mich, The Distance from me to you eine Chance zu geben. Denn die Idee eines Mädchens, das alleine eine 2000 Meilen lange Wanderung macht, hat mich einfach unglaublich fasziniert und ich war zumindest gespannt, wie die Autorin dieses Element ausgestalten würde.
Leider konnte mich das Buch nicht im Geringsten überzeugen, schlimmer noch: Es hat mich durchweg schockiert und wütend gemacht.
Schon in den ersten Kapiteln, noch bevor Sam überhaupt eingeführt wird, wird klar, dass hier viel schwarz-weiß gezeichnet wird. Courtney bleibt zu Hause wegen einem Jungen; obwohl sie als beste Freundin betitelt wird, hatte ich nicht das Gefühl, zwischen ihr und Kendra eine Freundschaft zu sehen.
Mit Brendan, Kendras Freund, ist es ähnlich. Er wird als „lieb, aufrichtig und ernst“ beschrieben, außerdem will er im Herbst sein Studium aufnehmen. Da der Klappentext bereits Sam ankündigt, rechnete ich damit, dass Kendra und Brendan sich trennen würden. Genau das passierte auch: Als Kendra auf dem Trail unterwegs ist, erhält sich die Nachricht von Brendan, er wolle sich auf sein Studium konzentrieren und daher eine Beziehungspause. Aha. Das ist von seiner Seite schön blöd, aber Kendras Reaktion ist noch absurder. Sie trauert nicht, ist nicht wütend, verurteilt ihn höchstens für seine Prioritäten. Schließlich steckt er ja in seinen Plänen fest.
Grundsätzlich fiel es mir unglaublich schwer, eine emotionale Beziehung zu den Charakteren aufzubauen. Das liegt gar nicht einmal daran, dass Gessner in der dritten Person schreibt — vielmehr berichtet sie tatsächlich nicht von den Gefühlen der Charaktere. Sie reagieren kaum emotional, setzen sich nie mit ihren Handlungen auseinander… und das gilt für die Protagonisten! Die wenigen Nebencharaktere werden nur klischeehaft charakterisiert, sodass sie vollkommen blass bleiben.
Meine Meinung über Kendra schwankte regelmäßig, worauf ich später noch zurückkommen werde, aber aus ihr hätte man grundsätzlich etwas machen können. Was Sam anbetrifft… puh.
Eingeführt wird er als klassisches Loveinterest: Groß, gutaussehend, ein Mädchenmagnet. (Dass er seit Wochen auf dem Trail herumläuft und vermutlich nicht mehr frisch riecht, erwähnt niemand.) Er flirtet natürlich mit Kendra, die sich als bestenfalls unauffällig beschreibt, und da die beiden in dieselbe Richtung laufen, begegnen sie sich in der Folge immer wieder.
Anstatt die Chance auszunutzen und die beiden sich wirklich kennenlernen zu lassen, konstruiert die Autorin lediglich zufällige Treffen, von denen eins absurder als das andere ist. Sam erzählt nichts von sich selbst und seiner Vergangenheit, und wenn Kendra etwas sagt, dann verhöhnt er sie regelrecht dafür. Leute, ich habe so einiges gelesen, aber ich bin noch nie einem so verachtungsvollen Charakter begegnet. Sam ist unfähig, irgendetwas zu kommunizieren, und in der Folge dessen schlichtweg voreingenommen und verbittert:

Sam hatte ihr nichts davon gesagt, wie aufgewühlt und unruhig er war. Komisch, dass sie es nicht bemerkte. Er vergaß, dass er manchmal […] schwer zu durchschauen war.
(The Distance from me to you, Marina Gessner, bloomoon)

Nur, dass wir uns richtig verstehen. Sam macht Kendra für seine Unfähigkeit verantwortlich. Sie muss ihn verstehen. Ganz zu schweigen von verallgemeinernden, sexistischen Aussagen wie diesen:

Sie sah genauso aus, wie ein Mädchen aussehen sollte, süß, brav und anständig.
(The Distance from me to you, Marina Gessner, bloomoon)

Unglaublich, wie reiche Mädchen ihr Geld verschwendeten, ganz abgesehen von ihrer Energie.
(The Distance from me to you, Marina Gessner, bloomoon)

Da fehlen selbst mir die Worte, und ich dachte, ich hätte schon alles gelesen.
Das Ganze gipfelt in einem von zahlreichen Ausbrüchen Sams:

Halt die Klappe“, rief Sam endlich.
(The Distance from me to you, Marina Gessner, bloomoon)

Es besteht einfach keinerlei Chemie zwischen den beiden, wie auch? Sie reden ja nicht miteinander. Sie wissen in der Konsequenz nichts voneinander und hören sich nicht zu. An irgendeinem Punkt entscheidet Kendra, sich vor ihm auszuziehen, was den Start der „Beziehung“ der beiden markiert. Wow. Super romantisch. Ich glaube, ich hätte das sogar noch hingenommen, aber das, was ich oben zitiert habe, markiert keine schlecht geschriebene, sondern eine schlichtweg toxische Beziehung. (Sam bringt sie im Laufe des Buches auch noch dazu, sehr viele, sehr blöde Dinge zu machen.) Was für ein Bild wird da jüngeren Lesern vermittelt?
Dieses Verhalten färbt natürlich auch auf Kendra ab:

Die ganzen Bücherstapel zu Hause, das viele Lernen, die ganzen guten Noten, und trotzdem wusste sie nicht, wie man es anstellte: die simpelste, grundlegendste Sache der Welt, nämlich einen Jungen dazu zu bringen, sie zu küssen.
(The Distance from me to you, Marina Gessner, bloomoon)

Das Problem habe ich schon öfters bei Jugendbüchern beobachtet. Gerade, wenn das Mädchen einen Hintergrund aus einer intakten bzw. wohlhabenden Familie und guten Noten hat, wird das oft als etwas Schlechtes dargestellt? Als ob man sie dafür verurteilen müsste. Als ob sie das zu einem Langweiler oder einem weniger guten Menschen machen würde. Wieder gibt es nur schwarz oder weiß. Verdammt schade. Es ist nichts Falsches daran, aus seiner Komfortzone auszubrechen. Aber auch hier animiert Sam Kendra zu Dingen, auf die sie niemals eigenständig gekommen wäre, und wodurch sie unverantwortliche Entscheidungen trifft, mit denen sie sich selbst in Gefahr bringt. Und das nur, um mit ihren „langweiligen“ Regeln zu brechen? Um begehrenswert für diesen Jungen zu sein?
Was Sam anbetrifft, kann ich nichts Revidierendes sagen. Seine Vergangenheit rechtfertigt nicht im Geringsten sein Verhalten.
Kendra… Kendra hätte eine ziemlich gute Protagonistin werden können. Es gibt vereinzelte Augenblicke im Buch, in denen man einen ganz anderen Blick auf sie erhaschen kann. Allein schon die Tatsache, dass sie sich vornimmt, die Wanderung alleine durchzuziehen, fand ich unglaublich bewundernswert! Leider geht die Kendra des Anfangs (wenn auch sie Vorurteile hegt und undankbar wirkt) im Mittelteil verloren. Der Wanderaspekt geht mit Sams Auftauchen den Bach herunter, rückt schlichtweg in den Hintergrund und verliert sich stellenweise komplett. Da wäre so viel mehr gegangen!
Am Ende des Buches gelang es Gessner zumindest, einen Hoffnungsschimmer zu erwecken (nicht nur, weil es vorbei war). Ich werde nichts spoilern, aber meiner Meinung nach hat sie mit dem Ausgang die bestmöglichste Entscheidung getroffen; noch dazu sieht auch Kendra bis zu einem gewissen Grad ein, was für gefährliche Entscheidungen sie getroffen hat.
Aber, wie bereits gesagt, nichts kann über diesen katastrophalen männlichen Protagonisten hinwegretten. Wieder einmal ist es schockierend, was man in Jugendbüchern vorfinden kann, was von vielen als schlichtweg „normal“ gelesen wird. Da bildet The Distance from me to you keine Ausnahme.

Fazit

The Distance from me to you hätte ein außergewöhnliches Jugendbuch sein können, kann aber in seiner Umsetzung nicht überzeugen. Gerade die beschriebene Liebesgeschichte ist nicht nur unrealistisch und wenig romantisch, sondern geradezu toxisch. Da geht noch einiges!
Vielen Dank an bloomoon und Netgalley für das Rezensionsexemplar!
The Distance from me to you ⚬ übersetzt von Katrin Behringer ⚬ 336 Seiten ⚬ bloomoon ⚬ Einzelband ⚬ 12,99€ (eBook) bzw. 14,99€ (Print)

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Ein Kommentar

  1. Ich frage mich wirklich, wie manche Autoren so etwas schreiben können. Ganz ehrlich – was genau will man mit solchen Beziehungen denn aussagen? Und was soll dadurch vermittelt werden? Geht einfach gaaar nicht!
    Obwohl sich die Geschichte ja rein vom Klappentext her echt gut anhört. Schade, dann wohl doch nicht! 😀

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