Inhalt
Meine Meinung
In jenem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, endgültig durchdrehte und das Haus abfackelte.
Celeste Ng, Kleine Feuer überall, dtv, S. 9
Tatsächlich lautete das Motto der Stadt »Die meisten Gemeinden entstehen einfach; die besten sind geplant«.
Celeste Ng, Kleine Feuer überall, dtv, S. 19
Vor allem aber ist Shaker Heights die Stadt, in der Celeste Ng aufgewachsen ist, eine Stadt, in der sie es liebte aufzuwachsen und die sie erst rückblickend komplexer erfassen konnte (zwei exzellente Interviews findet ihr hier und hier). Wie sie es selbst ausdrückt:
It‘s sort of like writing about a family member you love dearly but you know has certain quirks or shortcomings that you want to portray accurately, but at the same time you want people to like them the way you do.
(Quelle)
Ich muss zugeben, dass ich während des Lesens durchaus abgeschreckt von der Konformität der Stadt war. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass man wirkliche derartige Vorgaben stellen kann und die Leute sie befolgen. Weil ich das Gefühl hatte, dass die Stadt jedes bisschen Individualität schluckt, stattdessen eine Performance liefert. Aber rückblickend – und besonders, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass Kleine Feuer überall in den 90ern verwurzelt ist – kommt mir der Gedanke, dass die Stadt aktiv versucht, an ihrer kleinen Utopie zu arbeiten, dass sie aktiv versucht, die Umstände zu verbessern, und das wiederum beeindruckt mich durchaus.
Neben dem Thema des Feuers – ob im wahrsten Sinne des Wortes, in kleinen Flammen, die in den Figuren entstehen, oder vertreten durch Glut, die in ihnen schlummert – ist in Kleine Feuer überall das Thema der Mutterschaft geradezu omnipräsent. Einerseits werden da natürlich die biologischen Beziehungen zwischen Mia und Pearl, und Mrs Richardson und ihren Kindern Lexie, Trip und Moodie thematisiert; andererseits auch unkonventionellere Beziehungen, denn es zeigt sich recht schnell, dass die Kinder aus der einen Familie bei der Mutter aus der anderen gewisse Schlupfwinkel finden, die ihnen bisher nicht eröffnet wurden. Auch hier ist es unmöglich, zu bewerten, ob eine der beiden Mütter die „bessere“ ist, weil beide immerzu aus Liebe für ihre Kinder handeln, aber es war unglaublich faszinierend zu lesen, wie Celeste Ng ebendiese verschiedenen Perspektiven auf mütterliche Zuneigung eröffnet.
Mia umarmte Pearl, vergrub ihre Nase im Haar ihrer Tochter und fühlte sich, wie immer, wenn sie das tat, von dem unveränderten Duft getröstet. Sie roch, dachte Mia plötzlich, nach zu Hause, als wäre zu Hause nie ein Ort gewesen, sondern immer diese kleine Person an ihrer Seite.
Celeste Ng, Kleine Feuer überall, dtv, S. 352
Die Stärke dieses Themas kulminiert sich in dem großen Adoptionsstreit, der zwischen der chinesisch-amerikanischen Bebe und den McCulloughs, einer weißen, reichen Familie, entsteht. Nachdem Bebe ihr Kind zur Welt brachte, allerdings über kein Geld mehr verfügte, um sich um das Kind zu kümmern, setzte sie es vor einer Feuerwache aus. Jetzt, über ein Jahr später, geht es ihr finanziell und psychisch besser – und sie will ihr Kind zurück, woraufhin ein Rechtsstreit entsteht, der gefühlt die ganze Stadt spaltet. Es geht um biologische Eltern und um Adoptivelternschaft, aber auch um die Frage, wie eine weiße Familie das kulturelle Erbe des kleinen Mädchens erfüllen kann, wenn doch ihre leibliche Mutter dazu viel besser geeignet wäre.
Auch hier beweist Celeste Ng ein unglaubliches Feingefühl – nie entsteht der Eindruck, dass sie selbst irgendeine Meinung vertritt, irgendeine Seite bevorzugt; gleichzeitig werden die Argumente zwar sachlich, aber empfindlich genug vorgebracht, dass man nicht umhinkommt, beide Seiten zu verstehen … und zumindest ich saß vor dem Buch und war unfähig, eine klare, dezidierte Entscheidung zu treffen.
Für sie war es einfach: Bebe Chow war eine schlechte Mutter, Linda McCullough eine gute. Eine hatte die Regeln befolgt, die andere nicht. Das Problem mit Regeln aber war, sinnierte er, dass sie eine richtige und eine falsche Handlungsweise voraussetzten.
Celeste Ng, Kleine Feuer überall, dtv, S. 307
Ihr merkt es vielleicht schon selbst – ich weiß gar nicht, wie ich meine Liebe zu dem Buch ausdrücken soll, bin einerseits überzeugt, dass ich noch eine Ewigkeit weiterschwärmen könnte, andererseits der Komplexität dieses Buches immer noch nicht gerecht werden würde. Während des Schreibens dieser Rezension habe ich gemerkt, wie viele Aspekte ich noch gar nicht detailliert genug betrachtet habe oder welche Passagen ich mir unbedingt noch einmal anschauen möchte, jetzt, wo ich weiß, wie das Buch ausgeht. Ich kann euch Kleine Feuer überall wirklich nur ans Herz legen, wenn ihr nach einem Buch sucht, das Themen wie Rassismus, Mutterschaft und Identität anspricht, das euch mit seinen vielfältigen Geschichten in den Bann zieht, eure bereits gebildeten Ansichten herausfordert und euch gleichzeitig dazu bringt, neue Meinungen zu formen. Das ist es zumindest, was in meinen Augen ein unvergleichliches Meisterwerk ausmacht.
Fazit
3 Kommentare
Hi Isabella,
ich habe gar nicht mitbekommen, dass das Buch auf Deutsch übersetzt wurde. "Little Fires everywhere" ist auf dem englischsprachigen Markt schon eine Weile im Rampenlicht und dementsprechend auch schon eine Weile auf meiner ToRead Liste; Das Buch klingt mal nach etwas ganz anderem und spricht dabei noch wichtige Themen an.
Eine tolle Rezension!
Liebe Grüße,
Elli
Liebe Elli,
ich war auch positiv überrascht, wie schnell die Übersetzung vonstattenging – und wie gut sie geworden ist. Das Buch verdient in meinen Augen definitiv den Hype – ich hoffe, es kann dich genauso überzeugen, wenn du danach greifst. 🙂 Vielen Dank!
Alles Liebe
Isabella