Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte von Bernhard Hennen

Content Warnung

Sexismus

Inhalt

Milan Tormeno soll in die Fußstapfen seines Vaters, dem Erzpriester Nandus Tormeno, treten, doch er weigert sich, sich diesem Schicksal zu fügen. Stattdessen gerät er in einen aufziehenden Krieg – in dem bald schon ganz andere Gestalten, die bisher nur in Mären existierten, auf den Plan treten werden …
 

Meine Meinung

Ich glaube, man könnte meine Probleme mit Der Verfluchte in vier Kategorien stecken. Die erste, die mich rückblickend am wenigsten gestört hat, ist das Tempo. Mehr Schwierigkeiten hatte ich mit dem Protagonisten Milan, dem Frauenbild und dem Weltenbau im Allgemeinen.
So viel sei also schon vorweggenommen: Der Verfluchte war leider ganz und gar nicht der Fall (wie ein paar vielleicht schon durch meinen kleinen Ausbruch auf Instagram mitgekriegt haben). Dabei wollte ich es so sehr mögen – ich hatte es nämlich auf der Buchmesse gekauft, gerade weil der Autor mir so sympathisch war und mir die Art und Weise, wie er von der Geschichte erzählte, echt gut gefiel.
Nur hätte vermutlich alle Sympathie der Welt mein Leseerlebnis mit diesem Buch nicht mehr kitten können.
Weil ich am Ende dieser Rezension wahrscheinlich Schwierigkeiten haben werde, mich noch auf das Positive an diesem Buch zu konzentrieren, widmen wir uns dem am besten als Erstes: Vor allem der (fast achtzig Seiten lange) Prolog hatte mich verhältnismäßig gut unterhalten, und auch zwischendrin gab es vereinzelte Szenen, die mir doch noch Hoffnung darauf machten, dass ich meinen Spaß an diesem Buch haben könnte. Und ich finde die Grundidee – zumindest das, was man erahnen konnte – grandios. Worin diese Grundidee besteht, habe ich im Inhalt angedeutet, will euch aber aufgrund von Spoilern nicht mehr verraten.
Klingt schräg, oder? Dass ich die Basis der Geschichte nicht darlegen kann, weil sie spoilern würde. Damit wären wir schon beim quasi-nonexistenten Plot. Der offizielle Klappentext vom Buch verrät so ziemlich gar nichts (und das, was er verrät, nicht einmal besonders gut), weil über die Spanne des Buches sehr, sehr wenig passiert. Zwar hatte ich stellenweise den Eindruck, dass manche Grundbausteine nötig waren, aber ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass man das Buch gut auf dreihundert, vielleicht dreihundertfünfzig Seiten hätte reduzieren können, einfach, indem man unnötige Handlungsstränge rausschmeißt. Vielleicht hätte mich dieser Aspekt weniger gestört, wenn mir der Rest des Buches gefallen hätte – so las ich aber acht Tage an dem Buch, die sich wie mindestens drei Jahre anfühlten.
Mein nächstgrößeres Problem liegt beim Weltenbau – oder eher was-zur-Hölle-Bau. Der Verfluchte verspricht eine High Fantasy-Welt, in der ein Großteil der Geschichte in einem fiktiven Land namens Cilia spielt … nur fühlte sich das Ganze gar nicht so fiktiv an. Cilia an sich verströmte geradezu italienische Schwingungen (was mich nicht (so sehr) gestört hätte, wenn es konsequent gemacht worden wäre), und es gibt auch ein paar italienisch angehauchte Namen, aber dann gibt es wieder deutsch klingende Namen und ominöse Adelstitel und überhaupt hatte ich den Eindruck, dass nichts mit Konsequenz gemacht wird. Das fängt schon damit an, dass Hennen vor den Prolog einen Ausschnitt des Nibelungenlieds setzt, einem mittelhochdeutschen Text aus dem 13. Jahrhundert. (Cilia verwendet aber eine komplett andere Zeitrechnung.) Oder, dass anfangs ein Mann mit dem Namen Hartmann erwähnt wird, dem eine „dichterische Ader“ (S. 39) zugeschrieben wird, was ich zumindest als eindeutige Anspielung auf Hartmann von Aue, einem Dichter aus dem 12./13. Jahrhundert, verstehe. Und ich bin mir sicher, dass sich Hennen dem als Germanist auch bewusst ist. Darüber hinaus wird sowohl die Terminologie „tumb“ statt „dumm“ verwendet und öfters fällt der „Minne“-Begriff, ebenfalls ein mittelalterliches Konzept.
Hinzu gibt es einen asiatisch angehauchten Kontinent (oder ist es ein Land?), und auch eine verhältnismäßig präsente, asiatische Figur namens Nok – das Wort fällt natürlich nie, aber dennoch hatte ich das Gefühl, so ziemlich alle „Eckpunkte“ dieser Kultur vertreten zu sehen.
Ich will nicht so tun, als wüsste ich alles über Weltenbau – ich glaube nicht, dass ich überhaupt sonderlich viel Ahnung davon habe. Aber eine High Fantasy-Welt ist meines Erachtens nicht dazu da, um reale Kulturen zu nehmen, in einen 300 Watt-Mixer zu werfen und sich dann zu wundern, warum im fertigen Produkt noch Stücke zu sehen sind. Das ist sehr, sehr einfallslos, wenn man mich fragt.
Und in dieser wundervollen Welt wächst unser Held auf. (Diesen Satz bitte nicht ernst nehmen.) Milan ist ein verzogener, arroganter Teenager, der sich vorrangig um sich selbst kümmert und seinen Sturkopf durchsetzen will, koste es, was es wolle. Das Ganze wird besonders absurd dadurch, dass er im Text als perfekt, geradezu heroisch stilisiert wird; nichts kann er nicht, und was er nicht kann, lernt er so schnell, dass er dafür die nächste Portion Lob erhält, damit sein Ego noch weiter wachsen kann. Beispiele? Gerne.

Er klang wie sein Vater, wenn er im Oktagon predigte. Nur dass er nicht jahrelang seine Stimme geschult hatte. Ihm war diese Gabe über Nacht zuteilgeworden.
Bernhard Hennen, Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte, Fischer Tor, S. 569

Mein Favorit – klein Milan lernt, Schlösser zu knacken:

„Das ist unmöglich!“ Felicia nahm ihm das Schloss aus der Hand. „Ich habe Stunden gebraucht, um es zu öffnen, und ich bin gut. Du hättest scheitern müssen …“
[…]
„Du hast das nicht zum ersten Mal gemacht, richtig?“
[…]
„Ich schwöre beim Grab meiner Mutter, dass ich vor heute Nacht noch nie etwas anderes als einen Schlüssel benutzt habe, um ein Schloss zu öffnen“, entgegnete er ernst.
[…]
Endlich nickte die Herzogin [Felicia]. „Du bist ungewöhnlich.“
Bernhard Hennen, Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte, Fischer Tor, S. 269

So geht es die ganze Zeit. Milan tut etwas. Alle applaudieren ihm. Milan fühlt sich noch mehr in seiner grandiosen Persönlichkeit bestätigt. Denn Milan kann alles. Milan ist der Auserwählte.
Und Milan ist, entschuldigt meine Ausdrucksweise, dauergeil.
Okay, okay, ich will ihm ja kein Unrecht tun. Am Anfang der Geschichte ist er unschuldig, so unschuldig, dass er andauernd dafür aufgezogen wird, dass er mit 16 noch Jungfrau ist. Dann schickt Felicia Milan zu Nok, und Nok bringt ihm sieben Nächte lang bei, was es mit Leidenschaft und Verführungskunst und was-weiß-ich auf sich hat, und nach diesen sieben Nächten ist a) Milan unsterblich in Nok verliebt, b) dauergeil und c) Nok hat natürlich auch einen Narren an dem Jungen gefressen.
An der Stelle musste ich an Nevernight denken, das ich Anfang des Jahres gelesen und geliebt hatte. Nevernight ähnelt insofern Hennens Werk, dass es auch eine High Fantasy-Welt ist und eine sechzehnjährige Protagonistin namens Mia hat. Mia lernt, eine Assassine zu werden, und im Rahmen ihrer Ausbildung soll sie eben auch die Künste der Verführung lernen. Nur schläft ihre Lehrerin nicht mit ihr.
… wisst ihr jetzt, was ich meine?
Ganz abgesehen davon hat es mich persönlich abgeschreckt, das von Milan und Nok zu lesen – einfach, weil sie aus so verschiedenen Hintergründen, Altersklassen und Erfahrungen herkommen, und ich es nicht einsah, warum Milan jetzt mit einer ausgebildeten Frau Sex haben muss, um zum richtigen Mann zu werden.
Apropos „richtiger Mann“ – andauernd wird die Männlichkeit von zahlreichen Figuren in Frage gestellt beziehungsweise angesprochen und definiert, was einen „richtigen Mann“ ausgemacht. Ich bin keine Expertin bei dem Thema und will mir nichts anmaßen, aber manche Sätze waren mir schon sehr suspekt.

Seine Männlichkeit machte das Fundament seines Stolzes aus.
Bernhard Hennen, Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte, Fischer Tor, S. 135

Oder zum Beispiel der hier:

„Hab nicht so ein weiches Herz, Junge. Frauen mögen es, wenn deinesgleichen männlich ist. […]“
Bernhard Hennen, Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte, Fischer Tor, S. 117

Es gibt übrigens genau zwei weibliche Figuren in dem Buch, die eine größere Rolle einnehmen. Die eine davon ist Nok, die andere Felicia, die man auch als Milans zweite Sexualpartnerin und/oder große Liebe bezeichnen könnte. Ähnlich wie im Falle Nok schlafen die beiden miteinander, Milan ist unsterblich in Felicia verliebt und schwört sich, alles für sie zu tun (sie gehört eigentlich zu den Feinden, aber das ist endlich Milans Gelegenheit, seinem Vater „alles“ heimzuzahlen! Hurra!). Und auch auf ihrer Seite zeigen sich erstaunliche Veränderungen – hat sie vorher alles für ihr Land tun wollen, ist Milan mit einem Mal eine ihrer Hauptmotivationen, irgendwas zu tun. Obwohl sie sich vorher vielleicht für fünf Minuten unterhalten haben, aber ich meine ja nur.
Auch hier will ich einwenden, dass das mit meinen persönlichen Präferenzen zusammenhängen kann, aber ich persönlich bin es einfach leid, Liebe bzw. Lust als einzigen Motivator zu sehen. Charakter X ist so, weil Y ihm das Herz gebrochen hat. Ich tue A, weil B meine große Liebe ist. Klar kann das eine Motivation darstellen – aber mir persönlich begegnet es zu oft in Romanen, und in Der Verfluchte scheint zuweilen alle Motivation in Milans Hose und einem falschen Ehrgefühl zu stecken.
Damit wären wir schon bei meinem letzten Kritikpunkt: dem Frauenbild. Sowohl Nok als auch Felicia werden in einer intimen Beziehung mit Milan gezeigt, und da sie überhaupt die beiden prominentesten Frauen sind, hinterlässt das einen schalen Beigeschmack – denn nahezu alle anderen wichtige(re)n Figuren sind Männer. Hinzu kommt, dass gerade in Cilia Regeln existieren, die besagen, dass beispielsweise keine Frauen etwas im Rat zu suchen haben. Stichwort: institutioneller Sexismus. Wenn man schon die Gelegenheit hat, eine High Fantasy-Welt von Grund auf aufzubauen, warum sollte man sich dann entscheiden, etwas Derartiges zu reproduzieren?
Darüber hinaus entstand bei mir immer wieder der Eindruck, dass Nok und Felicia einzig und allein existierten, um Milans heroische Reise zu unterstützen. So gut wie nie taten sie etwas für sich selbst, immer nur für Milan, wegen Milan, sie selbst wurden nur im Zusammenhang mit Milan bewertet.
Spoiler!

Fun Fact: In Der Verfluchte ist Mord und Totschlag an der Tagesordnung, aber die einzige größere Figur, die umgebracht wird, ist Felicia. Eine Frau. Eine von zwei wichtigen Frauen. Und sie stirbt, um Milans Entwicklung voranzubringen. Hurra!

Juliano, Milans Bruder, macht auch keinen Hehl aus seiner Misogynie:

Was bildete sich dieses Frauenzimmer ein? Was tat sie überhaupt hier am Tor? Ein Hauptmann sollte das Kommando führen.
[…]
Im Stadttor stand eine einzelne schlanke Gestalt. Ein Mannweib in Hosen und Stiefeln, dachte Juliano angewidert. Eine, der ihr Vater nicht deutlich genug gezeigt hatte, wo ihr Platz war.
[…]
Hübsch war sie, dachte er. Wenn sie sich nur passender kleiden würde …
Bernhard Hennen, Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte, Fischer Tor, S. 448-450

Ich dachte tatsächlich bis zum Ende hin, dass Milan immerhin diese Eigenschaft nicht besitzt, aber dann stolperte ich in einer Szene über diese Aussage und war auf ein Neues wütend:

Sara hatte keine Frage nach all ihren Waffen gestellt. Auch nicht nach dem Woher und Wohin. Sie schien eine kluge Frau zu sein. Ihr war klar gewesen, dass sie beide sich ihr Essen auch einfach hätten nehmen können.
Bernhard Hennen, Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte, Fischer Tor, S. 537

Wir schließen also daraus: klug = still, keine Fragen stellend, nur Befehlen folgend und sich wildfremden Menschen aufopfernd. Sara muss sich als Frau sämtlichen Wünschen ihrer beiden männlichen Gäste beugen.
Der Verfluchte ist nicht das schlechteste Buch, das ich jemals gelesen habe, und bewegt sich ganz sicher nicht in Artemis-Sphären. Das, was ich hier kritisiere, verteilt sich immerhin auf die 570 elendig langen Seiten und hat es, wie bereits gesagt, ermöglicht, dass ich hin und wieder einen Hoffnungsschimmer verspürte, dass das Buch doch noch irgendwie die Kurve kriegen würde. Das macht alles in meinen Augen aber nicht weniger gravierend, und deshalb bezweifle ich, dass ich in der Zukunft zu der Fortsetzung – oder auch nur irgendwas von Hennen – greifen werde.
 

Fazit

Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte war, gelinde gesagt, ein Reinfall. Statt einer spannenden High Fantasy-Geschichte erhielt ich eine 570 Seiten lange Einführung in eine Welt, die ein schlechter Abklatsch unserer Realität ist, begegnete dem ätzendsten Protagonisten, den ich seit langen gesehen habe, und einem Frauenbild, das konstant einen bitteren Beigeschmack hinterließ.
 
 
Die Chroniken von Azuhr – Der Verfluchte ⚬ Klappenbroschur: 576 Seiten ⚬ Band 1 ⚬ Fischer Tor16,99€

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6 Kommentare

  1. Hallo Isabelle,

    scheint so, als hast du zur zeit nur Pech mit den Büchern.
    Ich habe als Jugendliche mal was von Hennen gelesen. Ich weiß noch, dass es mir nicht gefiel, aber ich weiß nicht mehr warum. Ist zu lange her. Andere Bücher von ihm stehen schon länger auf meiner Wunschliste, aber ich bin nie dazu gekommen sie zu lesen.

    Was die Sachen mit dem Weltenbau angeht so kenne ich andere Autor_innen, die ihre Fantasyländer an echte Länder anlehnen. So was kann interessant sein, wenn es sehr gut recherchiert ist. Und verschiedene Länder mixen ist etwas, dass nur funktioniert, wenn man extrem gut recherchiert und sich genaue Gedanken darüber macht. Die meisten Worldbuildingseiten raten davon ab, weil es selten gut gelingt.

    Du beschreibst, wie im Roman eine Frau getötet wird um einen männlichen Charakter zu entwickeln. Das ist die sogenannte "Women in Refrigerators" Trope. Diese Trope bezeichnet Situationen, in denen ein weiblicher Charakter getötet, gefoltert oder vergewaltigt wird, nur um die Entwicklung eines männlichen Charakters voranzutreiben. Kommt leider so häufig vor, dass sich damit ganze Websites füllen lassen. Wikiepida und TV Tropes haben gute Einträge dafür: https://en.wikipedia.org/wiki/Women_in_Refrigerators
    http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/StuffedIntoTheFridge
    Ich wollte zu der Thematik im Sommer mal einen Eintrag schreiben, wenn ich endlich mehr Zeit habe.

    LG
    Elisa

  2. Liebe Elisa,

    vielen Dank für deinen Kommentar – gut zu wissen (wenn auch irgendwie traurig), dass dieser Trope bereits einen Namen hat. Auf einen Artikel dazu würde ich mich sehr freuen!

    Liebe Grüße
    Isabella

  3. Bin gerade mittem im dritten Band der Trilogie.

    Das Worldbuilding wird über die Bände detailierter und deutlich besser. Die Verwirrung um die italienischen, asiatischen, deutschen Namen etc. lichtet sich.

    Ebenfalls werden noch einige weitere starke Frauen eingeführt. (die Weisse Königin, Die Kaiserin, …). Das „mittelalterliche“ Frauenbild wird im laufe der Handlung auch immer mehr reflektiert und in Frage gestellt.

    Der zweite Band war mir teilweise etwas zu Schlachtenintenstiv, aber spätestens ab Band 3 hat mich die Story wieder voll gepackt.

    Grüße

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