State of Sorrow von Melinda Salisbury

Inhalt

Die achtzehnjährige Sorrow ist in Rhannon aufgewachsen, einem Land, das von Trauer dominiert wird – Trauer um ihren Bruder, der nur kurz vor ihrer Geburt verstorben ist, gefolgt von dem Tod von Sorrows Mutter: zwei Verluste, die ihr Vater, der Kanzler, nie verkraftet hat. Deshalb gibt es gewisse Regeln und Praktiken in Rhannon, die sicherstellen sollen, dass auch das Land den Verlust niemals vergisst. Da ihr Vater sich darüber hinaus einer Droge verfallen ist, ist es Sorrow, die mehr oder weniger die politischen Aufgaben übernimmt – zusammen mit dem Vize-Kanzler plant sie sogar, den Titel ein für alle Mal offiziell zu übernehmen. Doch dann kommt alles anders …

Meine Meinung

Es ist wohl besser, wenn ich gleich vorwegnehme, dass State of Sorrow eines der besten Fantasy-Jugendbücher ist, das ich seit weiß Gott wie vielen Monaten – wenn nicht sogar Jahren – gelesen habe. Und dass ich mich zwar, wie immer, um Präzision bemühe, aber bereits ahne, dass diese Rezension mehr eine extensive Liebeserklärung werden wird.
Dem Buch gelang es mühelos, mich von der ersten Seite an in seinen Bann zu ziehen, was nicht zuletzt daran liegt, wie Melinda Salisbury die Geschichte konstruiert und verfasst hat – gerade in den ersten Kapiteln, als die Vergangenheit Rhannons und die bedrückende Gegenwart erzählt wird, stellte sich bei mir das Gefühl ein, ich würde ein Märchen lesen, in einer Art Traumwelt schweben. Ein wenig entrückt saugte ich die Worte auf, war unglaublich fasziniert von diesem so stark von Trauer gezeichneten Weltenbau, wie er den Alltag der Figuren formt und beeinflusst.

The rest of the Winter Palace felt too big: a mausoleum for the living, where sunlight was banished and the oil lamps were always lit. Where every moment, no matter the hour, felt like the dead of night: those quiet hours when it felt unnatural and strange, dangerous even, to be awake.

Die Regeln sind fast erschreckend bizarr: Lachen ist verboten. Alles soll abgedunkelt bleiben, man soll es bloß nicht wagen, die Fenster zu öffnen, Licht und Luft hereinzulassen. Überhaupt soll alles so verbleiben, wie es zum Zeitpunkt des Todes von Sorrows Bruder war, es sollen keine neuen Dinge geschaffen werden, Künste werden nicht mehr gelehrt. Salisbury etabliert aber nicht nur das, sondern beschreibt auch die Konsequenzen, die das auf Rhannon hat, die Stagnation, in die das Land getrieben wurde – die Mode hat sich seit achtzehn Jahren nicht verändert, das Volk lebt in konstanter Angst, die Bewohner können nicht (mehr) ihren Passionen nachgehen. Kleinen Kindern wird beigebracht, dass sie auf keinen Fall lächeln dürfen.
In dieser Welt muss Sorrow aufwachsen, der bereits mit ihrer Namensgebung eine Prognose mit in die Wiege gelegt wurde. Eine junge Frau, die regelmäßig damit konfrontiert ist, ihrem Vater aus dem Stupor der Drogen herauszuholen, die aber nicht gerade Erfolg damit hat. Sollte ihr Vater mal mit ihr sprechen, nennt ihr sie nie beim Namen, immer nur „Tochter“. Sie hat ihren Bruder nie kennengelernt, wohnt aber dennoch Jahr für Jahr einer Zeremonie bei, bei der eine Puppe in den Fluss geworfen wird, so, wie ihr Bruder starb. Dabei will sie eigentlich nur das Beste für ihr Land.
Die Geschichte beginnt politisch, und sie wird nur noch politischer. Ohne zu viel zu verraten, wird zum einen die Demokratie Rhannons, aber auch die Regierungsformen der anderen Länder thematisiert; es geht um Wahlkämpfe und Wahlen, um Abgesandte und Reden und Versprechungen und Pläne. Schon allein das hat mich begeistert, ich habe noch nie ein Jugendbuch gelesen, in dem Politik so ausführlich thematisiert wurde, noch dazu einen Fantasyroman, der etwas anderes als die „klassische“ Monarchie abbildet.

As she lay there, the stink of death in the air, the Dowager First Lady asked here what she would name the baby.
„Sorrow,“ she‘d said. „For that is all she brings us.“

State of Sorrow ist kein Buch, das mit einem actionreichen Plot punktet, doch das bedeutet nicht, dass es nicht spannend ist; zumindest für meinen Geschmack war es die perfekte Menge, die Spannung stets unterschwellig, stets präsent. Den ersten Plottwist hatte ich vorausgesehen, doch ich störte mich nicht daran, weil die Konsequenzen dieses Plottwists einzigartig waren, weil ich sie noch nie auf die Art und Weise interpretiert gesehen hatte. Die anderen Plottwists – irgendwann hörte ich auf zu zählen –, die darauf folgten, sah ich nicht mehr kommen. Der Klappentext des Buches ist bereits vage, und dafür liebe ich es noch ein kleines bisschen mehr – weil man letztendlich, gar nicht so unähnlich wie die Charaktere, keine Ahnung hat, was auf einen zukommt.

Und ach, Leute, die Charaktere. Salisbury hat ein beeindruckendes Geflecht aus Figuren erschaffen, die allesamt nicht nur unterschiedliche Hintergründe, sondern auch dementsprechend unterschiedliche Motivationen und Ziele mit sich bringen. Sorrow ist nur der Anfang, könnte man meinen – da ist auch Charon Day, der Vize-Kanzler, der quasi als Einziger an eine Art Vaterfigur herankommt; oder Irris, Charons Tochter, die alles gibt, um ihre beste Freundin Sorrow zu unterstützen; mein persönlicher Favorit ist Luvian Fen, den man leider erst nach der ersten Hälfte des Buches kennenlernt, danach aber nicht mehr loslassen möchte. Im Ernst: Ich weiß nicht, wann ich zuletzt einen Charakter so sehr geliebt habe. Melinda Salisbury weiß, wie man überzeugende Charaktere erzeugen kann, Charaktere, die nicht unbedingt sympathisch sein müssen, die am Ende des Tages einfach nur glaubwürdig sind.
Meistens überwiegt bei mir der Gedanke, dass ich jetzt noch so und so lange auf einen zweiten Band warten muss – im Falle von State of Sorrow bin ich aber froh, dass das Buch nur den Anfang darstellt. Ich kann mir aktuell nicht vorstellen, jemals genug von Sorrows Geschichte zu bekommen.

Fazit

State of Sorrow ist das originellste und beste Fantasy-Jugendbuch, das ich seit langem gelesen habe. Neben einem einzigartigen Weltenbau und grandiosen Charakteren stellt das Buch Fragen nach Moral, Politik, Familie und Identität und hat sich jetzt schon einen Platz auf der Liste meiner Jahreshighlights verdient.
State of Sorrow ⚬ Taschenbuch: 464 Seiten ⚬ Scholastic Children‘s Books ⚬ Band 1/3? ⚬ ca. 8,99€*
 
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6 Kommentare

  1. Oh, wow! Deine Begeisterung sprudelt ja förmlich zwischen den Zeilen hervor ? Ich muss zugeben, dass ich das Buch überhaupt nicht auf dem Schirm hatte und dass ich nicht mal den Titel kannte, bevor du es das erste Mal erwähnt hast, aber jetzt… WOW! Es klingt einfach unglaublich gut?
    Eigentlich brauche ich die Rezension gar nicht mehr, um überzeugt zu werden (obwohl die natürlich auch super ist ❤️), denn es ist schon nach deinen goodreads-Updates auf die Wunschliste gewandert 😀

  2. Von Cover und Titel her hätte ich gar keinen Fantasy-Roman erwartet, aber die Geschichte klingt super interessant. Obwohl ich davon vorher nichts gehört habe, überzeugt mich deine Rezension, es auf meine Wunschliste zu setzen. Danke für die Empfehlung!

  3. Jaa, das ist eine Angewohnheit von mir – wenn ich etwas toll finde, muss ich es so lange in die Welt hinausschreien, bis jeder davon mitbekommt. Der Nachteil ist, dass dann andere etwas zu hohe Erwartungen haben, also … äh. 😀 Aber freut mich, dass ich dich anstecken konnte! Das Buch ist wirklich etwas ganz Besonderes, und wäre es nicht in meiner FairyLoot gewesen, hätte ich ehrlich gesagt auch nicht danach gegriffen. Bin aber sehr, sehr froh, es getan zu haben. 😀

  4. Ganz im Ernst – es liest sich auch nicht wirklich nach Fantasy. Bzw. es liest sich nach der Fantasy, die mir fast am liebsten ist: Wir haben zwar eine erdachte Welt (und was für eine!), aber mit (bisher) eher dezenten Fantasy-Elementen. Ich mag das sehr gerne, kann aber in der Hinsicht natürlich nur für mich sprechen. Obwohl es natürlich sehr erfrischend ist, wenn die Magie mehr Teil des Systems ist als im Fokus zu stehen – der Fokus liegt hier nämlich ganz klar bei der Politik, den Charakteren, den Intrigen. ?
    Und jetzt habe ich schon wieder viel zu viel geschwärmt. Freut mich, dass ich dich neugierig machen konnte!

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