Vox von Christina Dalcher

Vox

TW: Homophobie, selbstverletzendes Verhalten

Inhalt

Amerika, 21. Jahrhundert. Frauen dürfen nur noch 100 Wörter am Tag sprechen. Auch in anderen Bereichen wird ihre Handlungsfreiheit mehr und mehr eingeschränkt. Eine dieser Frauen ist Jean. Früher war sie kognitive Linguistin, jetzt soll sie in die Rolle der stillen, gehorsamen Hausfrau gepresst werden. Früher hat sie nichts gegen die Warnzeichen getan, hat nicht protestiert oder ihre Stimme anderweitig genutzt. Jetzt ergibt sich eine Chance, zu handeln … doch wird Jean sie dieses Mal ergreifen?

Meine Meinung

Braucht die Welt noch eine Rezension zu Vox? Vermutlich nicht. Ich dachte erst gar nicht, dass ich überhaupt nach dem Buch greifen würde; die Rezensionen, die dazu eintrudelten, waren größtenteils nur mäßig begeistert. Dann las ich Anabelles Rezension, in der sie insbesondere den linguistischen Aspekt des Romans anspricht. Da ich mich im Studium zumindest mit den Basics beschäftigt habe – und sehr viel Spaß beim Lernen hatte –, war meine Neugier dann doch zu stark, um dem Hype länger zu widerstehen. Und rückblickend bereue ich es definitiv nicht, zu dem Buch gegriffen zu haben.

Zwei Dinge machen Vox besonders beängstigend: dass nichts von den Dingen, die dieses dystopische Amerika kennzeichnen, völlig aus der Luft gegriffen sind. Die Unterdrückung und Einschränkung von Frauen und anderen Minderheiten. Angehörige der LGBTQIA-Community werden in Dalchers Roman in Camps gesteckt, pro Zelle ein Mann und eine Frau, um sie „umzuerziehen“. Das alles sitzt, schockiert und schmerzt gleichermaßen, mit einer ordentlichen Portion Wut.

Der zweite Aspekt ist, dass Jeans Passivität ebenso wenig aus der Luft gegriffen ist. Wie oft hört man das Argument: „Ich bin ja nur eine Person mit einer Stimme“ – egal, in welcher Abwandlung? Wie oft wird es als Grund genutzt, eine Zuschauerrolle einzunehmen, um sich davor zu drücken, Position zu beziehen? In Flashbacks wird immer wieder aufgezeigt, wie Jean zu ihrer Studienzeit Angebote ihrer Mitbewohnerin ablehnte, an Demos teilzunehmen oder wählen zu gehen. Im Kontrast dazu steht die gegenwärtige Jean, die nicht das Gefühl abschütteln kann, zu einem gewissen Grad Schuld an den Konsequenzen zu haben. Ich würde behaupten, dass dieses Gedankenmuster nicht nur universell ist, sondern auch nie an Aktualität verliert – ob eben vor zwanzig Jahren, in einer dystopischen Zukunft oder auch in unserer Gegenwart.

Mein größter Kritikpunkt an dem Buch beläuft sich darauf, dass Jean eine Affäre hat. Bevor jemand Einspruch erhebt: Ich will nicht die moralische Qualität dessen beurteilen, sondern lese so etwas schlichtweg nicht gerne in Büchern und hätte mir gewünscht, das vornherein gewusst zu haben. Ich will nicht in die Details gehen, um Spoiler zu vermeiden, aber ich finde einfach, dass dieser Konflikt, wenn er schon in die Geschichte eingebracht werden musste, immerhin mehr Raum hätte erhalten sollen. Hier wurde mir zu viel unter den Tisch gekehrt.

Ebenfalls sollte man nicht erwarten, dass man zu Vox greift, um mit den Charakteren durchweg zu sympathisieren. Gerade Jean wirkt oft abweisend, obwohl die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt wird, hat man nicht unbedingt das Gefühl, sie zu verstehen. Ihr ältester Sohn Steven hat die Misogynie, die ihm seit jüngster Kindheit von seinem Umfeld gepredigt wurde, ohne Weiteres übernommen und zögert auch nicht, dies seiner Mutter zu zeigen. Man möchte ihn schütteln, ihn und all die anderen Fanatiker, die für getrennte Schulen sorgen, in denen Mädchen Kochen und Nähen lernen, aber nicht, das Wort zu ergreifen; die vorehelichen Sex und Betrug bei Frauen zum Verbrechen erklären und sie dementsprechend bestrafen; die wirklich und wahrhaftig glauben, dass Frauen einzig und allein dazu „dienen“, Kinder zu gebären.

Natürlich kommt Sympathie auf, aber es ist eher ein lähmendes Gefühl, zumindest ging es mir so. Ebenso oft, wie ich wütend war, saß ich vor dem Buch, eine Hand vor dem Mund, konnte und wollte nicht recht glauben, welche Grausamkeiten Dalcher gesponnen hat.

In anderen Rezensionen habe ich gelesen, wie das Ende als übereilt empfunden wurde, als zu konstruiert. Ich finde, dass dem Buch generell einige Seiten mehr gut getan hätten; es gab so viele Aspekte, in denen Dalcher der Geschichte noch mehr Tiefe hätte verleihen können. Das Ende im Großen und Ganzen finde ich in Ordnung, nur habe ich das Gefühl, dass die Autorin es sich teilweise doch ein wenig zu einfach gemacht hat.

Im wortwörtlichen Sinn zeigt der Roman auf, was passiert, wenn manche Menschen zu viel und andere zu wenig sagen. Da ist Jeans Tochter Sonia, die mit dem Wörterzähler am Handgelenk aufgewachsen ist, die Gefahr läuft, ihre Sprachfähigkeiten niemals richtig zu entwickeln. Da sind die zwei anderen Söhne Jeans, die munter beim Abendessen plappern, noch zu jung, um wirklich zu begreifen, in was für eine Welt sie mit einer ordentlichen Portion Glück geboren wurden. Und wie immer gibt es Leute, die rebellieren, Leute, die schweigen, Leute, die in der neuen Welt aufgehen, und andere, die sich schlichtweg anpassen und die Umstände akzeptieren. Im Kern erzählt Vox, was für ein Privileg es ist, eine Stimme zu haben – und dass man diese nutzen sollte.

Fazit

Vox ist eines der beklemmendsten Bücher, das ich jemals gelesen habe – und das zurecht, denn auch wenn es sich hierbei um eine Dystopie handelt, ist diese keinesfalls aus der Luft gegriffen. Die Umsetzung der Idee ist nicht perfekt, reißt einen aber dennoch mit und dient als Erinnerung, wie wichtig es ist, von der eigenen Stimme Gebrauch zu machen.

3,5 Herzen

Vox ⚬ übersetzt von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol ⚬ Hardcover: 400 Seiten ⚬ Fischer Verlag ⚬ 20€*


*Affiliate-Link im Rahmen des amazon Partnerprogramms. Wenn ihr über den Link etwas kauft, erhalte ich eine kleine Provision, für euch entstehen keine Mehrkosten.

Du magst vielleicht auch

4 Kommentare

  1. Ich muss sagen, dass das Thema sofort mein Interesse geweckt hat, sowohl wegen des Schock-Faktors als auch wegen des linguistischen Aspekts, da ich mich ebenfalls im Studium damit beschäftigt habe. Das mit der Affäre lässt mich jetzt allerdings etwas zurückschrecken, solche Dinge lese ich nämlich ebenso wenig wie du …

    1. Argh, kann ich gut verstehen. Ich weiß auch nicht, ob ich zu dem Buch gegriffen hätte, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass die Protagonistin eine Affäre hat (und diese doch einen ordentlichen Teil der Handlung einnimmt und beeinflusst).

  2. Meinen ersten Kommentar hat es nicht gesendet, deswegen hier jetzt Runde zwei, mal gucken, wie viel ich noch im Kopf habe.
    Auf deine Rezension war ich sehr gespannt, aber jetzt muss ich das, was du geschrieben hast erst einmal verarbeiten. Ich denke, hätte ich das Buch schon gelesen, hätte ich noch viel mehr aus deiner Rezension mitgenommen, aber bisher habe ich mich davor gedrückt. Allein die verschiedenen Meinungen zu diesem Buch geben ein sehr klares Bild davon ab und mehr denn je leigt mir die Prämisse schwer im Magen. Die Hände-vor-den-Mund-halten-weil-unfassbar-Momente würden sich sicherlich auch bei mir häufen und ich weiß nicht, ob ich das gerade gebrauchen kann. Wenn man so ein Buch liest, geht es einem sicherlich tagelang nicht mehr aus dem Kopf und wenn ich eine Hausarbeit schreiben soll, ist das hinderlich.
    Ich finde es gruselig und wahnsinnig alarmierend, wie gut ich mir die beschriebene „Zukunft“ vorstellen kann, irgendwas muss in unserer Gesellschaft gewaltig schief laufen, dass solche Szenarien glaubhaft sind.
    Was mich noch interessieren würde ist, ob der Linguistik-Aspekt, der auch mich in erster Linie Dank Anabelle angesprochen hat, irgendwie noch zum tragen kommt. Die „Umerziehung“ der LGBTQIA-Community kenne ich bereits aus „Autoboography“ von Christina Lauren und auch, wenn es ein sehr viel fröhlicheres Buch ist, finde ich die Tatsache furchtbar. In Autoboyography wurde die Umerziehung noch zusätzlich mit Religion begründet, spielt das hier auch eine Rolle?

    1. Ich kann dein Zögern voll und ganz verstehen – das Buch geht einem wirklich im Kopf herum, auch – oder gerade dann –, wenn man es gerade nicht liest.
      Und ja, es ist wirklich erschreckend, dass nahezu alles Beschriebene irgendwie in Reichweite scheint. Gerade Jeans Passivität trifft den Nagel auf den Kopf und bringt dazu, das eigene Verhalten zu reflektieren.
      Danke für‘s Ansprechen von Religion! Ich wusste, ich hatte irgendwas vergessen. Religion spielt in Vox eine wichtige Rolle, es gibt einen Priester, der unglaublich viel Einfluss hat und überhaupt erst alles ins Rollen brachte. In dem Kontext werden dann auch Bibelstellen je nach Belieben ausgelegt, also, dass die Frau nur dem Mann dienen „soll“ etc.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.