Inhalt
Eine brennende Lagerhalle. Jack und August werden in die Psychiatrie eingeliefert. Über Monate ist ihre Freundschaft immer enger geworden. Weil Jack August braucht, und August Jack helfen möchte. Doch wie konnten sie hier landen?
Meine Meinung
Am liebsten möchte ich sagen: Wisst nichts über das Buch, bevor ihr mit dem Lesen beginnt. Nicht, weil eine Inhaltsangabe potentiell zu viel verraten könnte – sondern, weil keine Inhaltsangabe auch nur ansatzweise an das eigentliche Leseerlebnis herankommen kann. Es ist nicht nur die Gestaltung des Buches – dazu später mehr –, aber die ganze Art und Weise, wie es konzipiert ist: in kurzen, geradezu episodenhaften Kapiteln und so geschrieben, dass man es gar nicht aus den Händen legen kann. Ich las es an einem Nachmittag durch, fühlte mich ein wenig benommen. Selbst die Playlists – die im Buch niedergeschrieben und, ja, auch auf Spotify zu finden sind – sind grandios konzipiert, eine bessere Hintergrundmusik könnte man sich nicht wünschen.
Was ihr allerdings wissen solltet: Das Buch spricht viel über Mental Health – über gute, weniger gute und einige hässliche Momente. Das heißt, dass es anstrengend zu lesen ist, weil es schlichtweg nicht anders geht; denn was Jack und August verbindet, ist nicht nur eine bloße Freundschaft, sondern wächst zu einer immer größer werdenden Co-Abhängigkeit heran. Die detaillierten Dynamiken dieser will ich niemandem vorwegnehmen, aber ich finde, dass Kayla Ancrum das Thema so sensibel behandelt, wie es nur geht. Wie oft haben wir Bücher gelesen, in denen die Charaktere nicht wirklich „gut“ für den anderen waren, aber nicht ohne einander konnten, und das Ganze als schlichtweg romantisch verkauft wurde? Das ist in Wicker King nicht der Fall. Schon früh im Buch bemerken Augusts und Jacks Mitschüler, dass die Freundschaft der beiden toxische Neigungen entwickelt, und sprechen August direkt darauf an. Der/die Leser*in ist von Anfang an gewarnt: Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist nicht uneingeschränkt romantisch, nicht harmlos. Sie tut weh – den Leser*innen, aber natürlich auch den Charakteren, wenn es auch eine ganz andere Sache ist, ob und wann diese das bemerken.
Ein großer Faktor dieser Co-Abhängigkeit ist die Fantasie-Welt, die Jack sieht, und die auch ausgiebig im Buch thematisiert wird – durch Zeichnungen, durch Berichte Jacks, aber auch durch die Gestaltung: Umso mehr Jack in diese Welt abtaucht, desto dunkler werden die Seitenränder. Nicht zuletzt dadurch entsteht das Gefühl, dass man einer Katastrophe beiwohnt (schließlich kennt man ja von Anfang an einen Teil des Endes!), die man nicht abwenden kann … aber genauso wenig kann man aufhören, zu lesen. Man will die beiden Jungen schütteln, sie in den Arm nehmen, ihnen irgendwie helfen, man hofft, dass sie Hilfe bekommen. Wicker King ist tragisch, hoffnungsvoll, berauschend – und bei all dem schonungslos ehrlich.
Darüber hinaus ist, nach Aussage der Autorin, Jack bisexuell und August questioning. Ich sage das hier, weil es im Buch nicht erwähnt bzw. explizit benannt wird – was für mich persönlich völlig in Ordnung ist, aber, wie Katrionia in diesem exzellenten Beitrag anmerkt, dafür sorgen könnte, dass die Beziehung der beiden als „Ausnahme“ gelesen werden könnte. (Wenn ihr außerdem slow-burn romance mögt, werdet ihr hier auf eure Kosten kommen.)
Ich dachte niemals, dass ich etwas in der Art mal in einer Rezension ansprechen würde, aber das Nachwort der Autorin (und die Widmung) setzt dem Buch noch die Krone auf – darin spricht sie nicht nur über das, was Jack und August durchmachen, sondern auch über die dahintersteckenden Strukturen, und sensibilisiert damit weiter für die Thematik. Spätestens damit hat sich Wicker King nicht nur als außerordentliches Jugendbuch bewiesen, sondern auch als eins meiner Jahreshighlights. Wenn ihr nach einem unglaublich düsteren, atmosphärischen, aber doch zuweilen hoffnungsvollen Buch mit unheimlich echten Charakteren greifen wollt, liegt ihr hier genau richtig.
Fazit
Ich hatte hohe Erwartungen an Wicker King, aber das Buch konnte diese mühelos übertreffen. Die Gestaltung, die Erzählweise und die Geschichte vereinen sich zu einer Erfahrung in Buchform, wie ich sie noch nie zuvor gemacht habe. Absolute Empfehlung.
Vielen, vielen Dank an dtv für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!
Wicker King ⚬ übersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn ⚬ Hardcover: 320 Seiten ⚬ dtv ⚬ Einzelband ⚬ 16,95€*
6 Kommentare
Hi!
Dein Fazit klingt echt super! Ich glaube, ich hatte mal eine Leseprobe in meiner Buchbox letztes Jahr. Da bin ich ja wirklich gespannt!
Liebste Grüße,
Wiebi
Da kannst du dich wirklich auf ein tolles Buch freuen!
Alles Liebe
Isabella
Ich bin gerade noch dabei, dieses Buch zu verarbeiten und an meiner Rezension zu feilen, aber du sprichst viele wichtige Dinge an, die im Buch gar nicht so zur Sprache kommen, besonders der Queer-Effekt. Ich hatte es bisher gar nicht als LGBTQ-Buch eingestuft, weil die Beziehung so natürlich verlaufen ist und bis zum Ende nicht groß thematisiert wurde – zumindest nicht vom Erzähler. Ich weiß nicht, ob ich es gut finde, es gleich in die LGBTQ-Spalte zu stecken, denn dann geht man mit einer ganz anderen Haltung heran und stellt diese Beziehung vielleicht auch „alienhaft“ dar, dabei finde ich es wunderbar, wie fließend es hier passiert und zeigt, wie natürlich es ist. Obwohl natürlich nicht alles gut verläuft. So wichtig ich Repräsentation auch finde, freue ich mich auf den Punkt, wo es normal ist und man solche Kategorien nicht mehr anwenden muss. Ich hoffe, du verstehst was ich versuche auszudrücken.
Von der Vielschichtigkeit bin ich tief beeindruckt und auch, wenn ich das Buch nicht liebe – weil einfach zu viel falsch läuft, als das ich es gutheißen könnte – ist es mit Farbenblind das bisher wichtigste Buch, dass ich dieses Jahr gelesen habe und dafür bin ich dankbar. Auch dir bin ich übrigens dankbar, denn wenn du nicht im Vorfeld dafür geschwärmt hättest, hätte ich niemals dazu gegriffen. 🙂
Und das Nachwort ist super, vielleicht ist es sogar mein liebster Aspekt des Buches. Ich finde es wunderbar, dass die Autorin es genutzt hat und eine so wichtige, Mut machende Botschaft hinterlassen hat.
In die Playlist muss ich unbedingt mal rein hören, ich wusste gar nicht, dass es dazu eine gibt.
Ist es okay, wenn ich deine Rezension bei meiner nochmal mit verlinke?
Hmmm, ich finde nicht, dass ich es damit in eine bestimmte Sparte stecke – ich betrachte es bspw. auch nicht vordergründig so. Ich habe es schlichtweg erwähnt, weil ich diese Repräsentation wichtig finde und auch ich gerne aktiv nach Büchern suche, in denen ich mich repräsentiert sehe. Außerdem wollte ich eben thematisieren, dass es gerade nicht explizit gesagt wird, was, wie Kat in ihrem Artikel schreibt, eben „falsch“ ausgelegt werden kann. Auch wenn es mich persönlich nicht stört, weil ich Charaktere gerne so queer interpretiere, wie ich will 😀
Aaaber es freut mich so, so, so sehr, dass dich das Buch ebenfalls überzeugen konnte! Es ist wirklich einzigartig und ich stehe voll und ganz dahinter und werde so ziemlich alles von der Autorin lesen, was auch immer da noch kommt. 😀 Und deine Worte zum Nachwort sind so treffend! Es macht noch einmal richtig Mut und Hoffnung ❤️
Es sind die Playlists, die eben auch im Buch aufgelistet sind, aber ich mag die Atmosphäre super gerne. Und klar darfst du mich verlinken, danke! Ich bin sehr gespannt auf deine Rezension 🙂
Oh Mann, das Buch schwirrt überall bei mir in der Timeline / Instagram Feed herum und alle (wirklich alle) sind so begeistert davon! Dabei klingt die Inhaltsangabe wirklich gar nicht mal so vielversprechend, finde ich.. ? aber deine Rezension ist ja wirklich SO positiv – ich muss mir dringend eine Leseprobe besorgen 🙂
Liebe Grüße
Juliane
Jaaa, man kann das Buch gerade quasi gar nicht umschiffen. 😀 Ich freue mich aber sehr darüber, dass es auch bei anderen so gut anzukommen scheint. ? Eine Leseprobe klingt nach einer guten Idee! Ich kann dir aber auch einfach raten, es mal in der Buchhandlung durchzublättern – es ist auch ganz oberflächlich betrachtet ein richtiger Hingucker 😀
Alles Liebe
Isabella