Tess Raabe scheint eine überaus erfolgreiche Influencerin zu sein: Als That Girl teilt sie täglich ihre Morgenroutine inklusive Meditation, gesundem Essen und Dankbarkeitstagebuch, Tipps zu Self Care und Rezepte für den neusten Superfood-Salat. Alles, was an der Schnittstelle von Self Care und Produktivität liegt, ist ihr Metier. Und als ob das nicht genügt, ist die 25-Jährige erfolgreiche Autorin – in Date Me erzählt sie von all den misslungenen Dates, die man als Frau in den Zwanzigern eben so mitnimmt. Muss ja niemand wissen, dass manche Details hinzu- und manche zu düstere Passagen herausgedichtet wurden. Und dass in Tess’ Innerem ganz viel Wut steckt: Wut auf den neusten Mann, der sie ausgenutzt hat und doch nur einer von vielen ist. Doch dann lernt sie Leo kennen. Und endlich scheint alles anders zu werden …
Neues aus der Selbstoptimierungshölle
Ich werfe mal eine These in den Raum: Als Frau in ihren Zwanzigern, die TikTok benutzt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die eine oder andere That Girl-Routine in den Feed schleicht. Es gab eine Zeit, in der ich nahezu obsessiv alles in die Richtung schaute, obwohl die Lebensrealitäten dieser Frauen relativ wenig mit meiner eigenen zu tun haben. Zwar mag ich Yoga und Achtsamkeitsübungen, aber ich werde sicher nicht um sechs Uhr morgens aufstehen, um mir dann diverse Trend-Supplements reinzuzwängen, in meinem reinweißen Ikea-Apartment meine Skincare-Routine durchzuziehen und anschließend Avocadotoast zu frühstücken. Nicht, dass das nicht eine valide Art und Weise ist, den Morgen zu verbringen – wenn sie Freude bereitet. Doch hinter der Ästhetik dieser Routinen verbirgt sich eine drohende Message: Der Schlüssel zum Erfolg (und zum normschönen Körper) liegt in diesen Bausteinen, Disziplin, und den richtigen Produkten.
Bis zur Lektüre von That Girl hatte ich mir relativ wenig Gedanken darüber gemacht, was dieser Trend eigentlich vermittelt – und welche Machtstrukturen in diesen cleanen 15-Sekunden-Videos kodiert werden. Dabei würde ich behaupten, dass es nicht Anliegen des Romans ist, diesen spezifischen Trend auseinanderzunehmen, sondern er sich allgemein auf den Druck von sozialen Medien und die Schwierigkeit, die eigene Identität abseits von irgendwelchen trendigen Idealen zu finden, bezieht. Gleichzeitig erzählt That Girl auch von Frauenfreundschaften und Schönheitsidealen und dem Patriarchat. Ganz schön viel auf einmal. So geht es auch Tess, die nach ihrem ersten Buch jetzt an einem neuen Manuskript arbeiten soll, aber eigentlich gar nichts mehr zu erzählen hat. Denn so aufregend ihr Dating-Leben nach außen hin wirken mag – Tess ist ausgelaugt von den ganzen Lügen, leeren Versprechen und Widersprüchlichkeiten (deren Darstellung wirklich gelungen ist!).
Auf unserem ersten Date hatte er mir verraten, dass er die Männerpille nehmen würde, wenn er könnte. Kurz bevor er sich in Rage geredet und aufgezählt hatte, was ihn am allgegenwärtigen Sexismus aufrege. Ohne mich eine einzige Sekunde zu Wort kommen zu lassen.
Gabriella Santos De Lima: That Girl, S. 14
Heimliches New Adult
Aber dann lernt Tess den Koch Leo kennen. Leo scheint alles zu sein, was die Männer vorher nicht waren: aufrichtig, an ihr interessiert, sensibel, intelligent, emotional reif. Wider Willen keimt ein weiteres Mal Hoffnung in ihr auf. Doch nicht nur hinter Leos Fassade stecken Geheimnisse – das Chaos ihres Privatlebens und der berufliche Druck lassen auch die That Girl-Fassade bröckeln. Die vielleicht größte Stärke des Romans ist seine Sogwirkung, die ganz klar auf relatability setzt. Unter ihrer Instagram-Ästhetik ist Tess doch nur ›eine von uns‹. Frustriert von internalisierter Misogynie, immer auf der Suche nach einer neuen Möglichkeit zur Selbstverbesserung und mit einer zunehmend größer werdenden Wut auf die sexistischen Doppelstandards, die deutlich länger halten als moderne Beziehungen.
Darüber hinaus ist That Girl so gut lesbar, weil es ganz klar auf New Adult-Konventionen setzt. Zwar sagt die Autorin selbst wiederholt auf Instagram, dass der Roman eben nicht (wie ihre bisherigen Publikationen) New Adult sei. Auch das Cover ist sehr bemüht darum, andere Assoziationen zu wecken. Aber wenn man beim Alter der Protagonistin ein Auge zudrückt, finden sich immer noch die gewohnten NA-Bausteine: Protagonistin mit vager Beschäftigung, konventionell attraktives Love Interest, ganz viel Chemie, dramatische Höhen und Tiefen, ein bis zwei beste Freundinnen, die maximal drei Charaktereigenschaften haben, you know the deal. Der einzige Unterschied ist, dass That Girl einen konsequent ernsten Ton anschlägt, der bei jeder romantischen Szene darauf warten lässt, dass das nächste Unglück geschieht.
Und versteht mich nicht falsch: Mit New Adult, oder Konventionen, wie sie alle Genreliteratur aufweist, ist überhaupt nichts falsch. Mein Problem ist, dass That Girl ein bisschen sehr versucht (verzeiht mir die bissige Analogie), ›not like other girls‹ zu sein. Vorgibt, all diese großen Themen anzuschneiden, aber dabei genau daran scheitert, indem es viel zu oft – und bei der Vielzahl an Diskursen gezwungenermaßen – an der Oberfläche bleibt. Tess’ könnte genauso gut einen anderen Trend verkörpern. Oder auch einfach nur eine gesichtslose Studentin sein, die zu viel auf Social Media rumhängt – der Rest des Romans wäre davon unberührt.
Once again: Neoliberalismus
Trotz alldem hat That Girl einen Nerv bei mir getroffen, weil ich mich schon das eine oder andere Mal in ähnlichen Situationen wie Tess befunden habe, und es immer schön ist, sich durch Literatur etwas weniger alleine zu fühlen. Gabriella Santos De Limas große Leistung besteht darin, die Wogen nicht zu glätten, sich hinzustellen und zu sagen: So, wie’s läuft, kann’s eigentlich nicht weitergehen – und trotzdem passiert genau das. Und auch wenn der That Girl-Trend für den Roman nur ein beliebiges Plot Device ist, konnte ich trotzdem nicht aufhören, darüber nachzudenken, was genau ich daran so faszinierend finde – beziehungsweise, wenn man auf die Likes diverser TikToks schaut, hunderttausende Menschen feiern.
Da es sich hier immer noch um eine Rezension handelt, nur kurz: Erstens finde ich es auffällig, dass all diese Trends immer an Frauen appellieren, die damit a) mehr Zeit in sich selbst und b) mehr Geld in die Wirtschaft investieren sollen. Denn, zweitens, beides raubt wertvolle Energie, um sich mit den dahinter liegenden Machtstrukturen auseinanderzusetzen. Die fangen, drittens, bereits damit an, dass dergleichen Ästhetiken (wie z. B. auch das clean girl) bereits Ausdruck eines Privilegiencharakters sind. Ökonomische und soziale Disparitäten stehen von Anfang zwischen den Konsumentinnen und den Produzentinnen, sodass erstere konsequent am Ideal scheitern müssen. Warum ich nicht aufhören konnte, sie zu schauen? Weil, viertens, That Girls alles daran setzen, Zuschauerinnen davon zu überzeugen, dass eben all das nicht der Fall ist – dass man, wenn man nur genug Selbstdisziplin hat, genau wie sie werden kann. Oder dass man zumindest einen TikTok nach dem anderen als Ersatzhandlung gebrauchen kann, um sich einzureden, dass man nur einen Schritt davon entfernt ist. Und natürlich jederzeit anfangen könnte, nach dem bestmöglichen Leben zu streben.
Hier kriege ich wieder den Bogen zu That Girl: Umso mehr Tess’ Leben aus den Fugen gerät, desto schwerer fällt es ihr, die Scharade aufrechtzuerhalten. Doch wann ist der Leidensdruck groß genug? Und wer ist die Person hinter der Persona? That Girl hat vielleicht nicht alle Antworten. Aber es stellt die richtigen Fragen.
That Girl ⚬ Klappenbroschüre: 288 Seiten ⚬ HarperCollins ⚬ 16€ ⚬
Herzlichen Dank an HarperCollins für das Rezensionsexemplar!