Nevernight: Die Prüfung von Jay Kristoff

Inhalt

Die sechzehnjährige Mia will nur eines: sich von der Roten Kirche zu einer Assassine ausbilden zu lassen, damit sie den Tod ihres Vaters rächen kann. Doch die Ausbildung ist alles andere als einfach – denn von den fast dreißig Teilnehmern werden es nur vier schaffen, und auf einen nicht geringen Teil derer, die scheitern, wartet der Tod …

Meine Meinung

Ich glaube, Nevernight: Die Prüfung ist eines dieser Bücher, das man entweder mag – besser: vergöttert – oder eben nicht. Es freut mich jedoch sehr, dass ich mich zur ersteren Fraktion zählen kann, denn ich wollte das erste eigenständige Werk, das ich von Jay Kristoff lese, wirklich mögen.
Was macht Nevernight denn zu so einem speziellen Kandidaten? Vorrangig ist das in meinen Augen der Weltenbau – hier macht Kristoff nämlich etwas, das eigentlich tendenziell verpönt ist, und zwar erzählt er uns Lesern (gefühlt) so ziemlich alles, das es über Mias Welt zu wissen gibt. In Fußnoten – die gut und gerne mal drei Viertel einer Seite einnehmen können – gibt der Erzähler winzigste Details zu allerhand Hintergrundgeschichten, skurrilen und blutigen Details gleichermaßen zum Besten. Zugegeben: Man muss sich daran gewöhnen. Und manche Fußnoten sind tatsächlich etwas trocken, aber das vergisst man spätestens dann, wenn man die nächste gelesen hat und der Erzähler irgendeinen bissigen Kommentar dort ablässt. Würde ich wollen, dass mit einem Mal alle AutorInnen sämtliche Einzelheiten ihres Weltenbaus in ihre Bücher quetschen? Nein. Aber es funktioniert fast schon unverschämt gut für diese düstere Geschichte.
Düster ist das nächste Stichwort: Mia mag vielleicht sechzehn Jahre alt sein, aber Nevernight ist bei aller Liebe kein Jugendbuch. Neben Szenen, in denen Gewalt mit all ihren unschönen Konsequenzen dargestellt wird, finden sich in der Geschichte auch Sexszenen.

„[…] Du bist eine Tochter der Worte. Ein Mädchen, das Geschichten zu erzählen hat.“
Nevernight, Jay Kristoff, Fischer Tor

Ich weiß allerdings immer noch nicht, ob ich Mia als Antiheldin betiteln will. Denn das ist gerade der Grund, warum sie zwischen den Auszubildenden der Roten Kirche hervorsticht: Weil sie nicht ganz so skrupellos wie alle anderen ist, weil sie sich immer wieder Fragen nach ihren (moralischen) Grenzen stellt und diese austestet. Damit will ich nicht sagen, dass Mia keine üblen Dinge tut – sie tut nämlich sehr üble (und blutige) Dinge. Aber zumindest im Kontrast zu ihrem Umfeld fiel es mir schwer, sie als Antiheldin zu betrachten. Sie ist ein Mädchen, das viel zu früh erwachsen werden musste, das von den Umständen geformt wurde. Ich bewundere sie für ihre Komplexität und freue mich im Gegenzug darüber, dass ich das Gefühl hatte, sie unglaublich gut kennenzulernen und ein Gefühl für sie zu kriegen.
Überhaupt war ich begeistert davon, mit welchem Detailreichtum sämtliche Charaktere dargestellt wurden. Ich hatte keine Probleme, die Nebencharaktere auseinanderzuhalten, denn Kristoff verpasst ihnen allen einzigartige Charakteristika, ohne sich zu eindimensionalen Typen zu reduzieren. Selbst die Charaktere, die ich nicht ausstehen konnte, waren gut gemacht … einfach, weil das Buch mir einen legitimen Grund gab, sie nicht zu mögen. Klingt komisch, muss man aber auch mal sagen.
Ob Nevernight: Die Prüfung den aufregendsten Plot aller Zeiten hat, glaube ich nicht; gerade am Anfang wird die Geschichte noch in zwei Zeitsträngen – Mias Vergangenheit und Gegenwart – erzählt und ich brauchte etwas, bis ich mich in den vergangenen Ereignissen zurechtfinden konnte. Und auch ihr Weg zur Roten Kirche nimmt einiges an Seiten in Anspruch, dennoch hat es mich überhaupt nicht gestört. Ich habe mich einfach so … unglaublich wohl in der Geschichte gefühlt. Ja, in einer Geschichte voller Mord und Totschlag. Aber etwas an der Welt, an Mia und an der Art und Weise, wie all das erzählt wird, hat mich voll und ganz in den Bann gezogen. Ich sag‘s euch: Ich habe noch nie ein 700 Seiten-Buch gelesen und gewollt, dass es niemals endete. Aber bei Nevernight hätte ich gut und gerne noch einmal 700 Seiten mehr gelesen.
Bei dem Ende schaffte es Kristoff noch einmal, eins draufzusetzen und Mias Geschichte in – sagen wir – einen größeren Kontext einzuordnen. Weniger schön ausgedrückt: Ich war verflucht aufgewühlt, als ich das Buch beendete, und kann den zweiten Band kaum abwarten. Ich will mehr über Mia, über Herrn Freundlich lesen, mehr über diese faszinierend blutige Welt erfahren. Nevernight: Die Prüfung war ein einzigartiges Erlebnis.

Fazit

Kurz: Ich habe Nevernight: Die Prüfung geliebt. Jay Kristoffs ausgiebiger Weltenbau ist etwas, auf das man sich einlassen muss, aber Mias Geschichte hat mich einfach in den Bann gezogen – und nicht mehr losgelassen. Grandiose Fantasy!
Nevernight: Die Prüfung ⚬ übersetzt von Kirsten Borchardt ⚬ Hardcover: 704 Seiten ⚬ Band 1/3 ⚬ Fischer Tor ⚬ 22,99€*
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8 Kommentare

  1. Ohh, was für eine tolle Rezension!

    Ich kann dir mal wieder nur zustimmen. Auch, wenn ich dem Buch nicht ganz 5 Sterne gegeben habe, was wie du schon sagst, am Anfangsteil lag, war ich sonst genauso begeistert wie du!

    Ich überlege gerade auch ganz angestrengt, wann wohl der beste Zeitpunkt ist, um Godsgrave zu lesen, damit ich nicht zu lange auf Darkdawn warten muss… hach, immer dieser Struggle.

  2. Danke! 🙂

    Ahh, da fühle ich mit dir! Ich lese ja die deutschen Ausgaben und darf also erst mal noch warten, bis Godsgrave überhaupt auf Deutsch erscheint, aber … der Struggle ist mal wieder, sehr, sehr, SEHR real. Und freut mich, dass es dir ebenfalls gefallen hat <3 (Und der Einstieg wird bei Godsgrave bestimmt leichter! :))

  3. Ich denke schon, dass wir Mia als Antiheldin bezeichnen können, denn wie du ja sagst, sie tut auch ziemlich schlimme, moralisch verwerfliche Dinge und dass sie das immer wieder auch in Frage stellt macht dann eben das Heldenhafte aus. Sonst wäre sie einfach eine Bösewichtin und das ist sie nicht.
    Ich habe das Buch auf jeden Fall auch abgöttisch geliebt und mit Zufriedenheit festgestellt, dass der zweite Teil genauso gut ist. Freue mich riesig auf Band 3 dieses Jahr 😀

  4. Ich würde das Buch ja irgendwie wahnsinnig gerne noch einmal auf deutsch lesen, weil ich es auf englisch so anstrengend fand und ich glaube mit der Übersetzung mehr Spaß hätte, weil ich mich mehr auf die Geschichte einlassen könnte, andererseits würde es mich glaube ich total rausbringen, wenn ich mitten in der Reihe die Sprache wechsle (mal ganz davon abgesehen, dass ich den zweiten Band hier schon auf englisch stehen habe und mich erfolgreich davor drücke ihn zu lesen…) 😀 By the way, wurde der Name Mr. Kindly wirklich übersetzt? 😀

  5. Kann ich verstehen 😀 Dafür hast du doch im englischen Original die gentlefriends drinnen, oder? Die find nämlich super cool 😀 Und ja, Mr. Kindly wurde zu Herr Freundlich übersetzt – klingt ein wenig sperrig, aber man gewöhnt sich dran, und es ist meines Erachtens die beste Lösung.

  6. Ahh, die Unterscheidung zwischen Bösewichtin und Antiheldin gefällt mir. Demnach stimme ich dir zu! 🙂
    Und freut mich zu hören, dass der zweite Band genauso gut ist – auch wenn ich befürchte, auch da einige Nerven zu verlieren 😀

  7. Hallo Isabelle,

    eine wirklichn tolle und nachvollziehbare Rezension, die nochmal richtig Lust macht, dieses Buch zu lesen, obwohl es sowieso schon auf meiner Wunschliste steht. Mich fasziniert gerade dieses Düstere an der Story und den Charakteren ungemein, und viele Aspekte deiner Rezension wie zum Beispiel die Ausarbeitung der Charaktere klingen, als würde ich das Buch lieben. Von daher hoffe ich dann mal, dass ich auch zur ersten Fraktion gehören werde. 😀
    Auf jeden Fall aber eine super geschriebene Rezi – danke dafür, dass du mir nochmal in den Kopf gerufen bzw. ergänzt hast, warum ich dieses Buch lesen möchte!

    Liebe Grüße,
    Dana

  8. Hi Isabella,
    "Amen!" zu dieser Rezension. Ich habe es ja ungefähr zeitgleich mit dir gelesen und war ebenso begeistert wie du. Fantasy gehört eher selten zu den Büchern, die ich lese; aber ich bin froh, dass ich dem Nevernight Hype gefolgt bin. Die Story ist einfach so wunderbar düster und blutig, genau mein Fall (Okay, das klingt falsch aber du weißt bestimmt, was ich meine).
    Die Reise zur Red Church war mir persönlich ein wenig zu lang aber als Mia dann ankam und die Story so richtig los ging, war das verziehen.
    Die Fußnoten habe ich teilweise übersprungen wenn der Plot grade zu spannend war, dass ich einfach weiterlesen musste.
    Einfach wunderbar! Ich freue mich schon sehr auf "Godsgrave"!
    Liebe Grüße,
    Elli

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