Nix passiert von Kathrin Weßling

Content Warnung

Depressionen, Panikattacken, Panik- bzw. Angststörung, Alkohol- und Drogenkonsum, Homophobie

Inhalt

Seitdem Jenny mit ihm Schluss gemacht hat, fällt es Alex schwer, seinen Alltag auf die Reihe zu kriegen, und er verbringt die Tage mit exzessivem Schlafen und Alkohol, bis er sich schließlich entscheidet, zurück nach Hause zu seinen Eltern – aufs Land – zu fahren. Doch da wird er eigentlich erst so richtig mit dem Ausmaß seiner Probleme konfrontiert …

Meine Meinung

Vor etwa acht Monaten entdeckte ich in der Verlagsvorschau des Ullstein Verlags Nix passiert und fieberte seitdem auf das Erscheinen des Buches hin. Der Erscheinungstermin wurde nach hinten verschoben, Weßling schrieb das Buch innerhalb von zwei Monaten (!) komplett neu und zu guter Letzt erhielt es ein neues Cover. Als ich es schließlich endlich in den Händen hielt, war ich gespannter denn je – und oh man, das Warten hat sich sowas von gelohnt.

Weßlings Schreibstil mochte ich bereits bei Super, und dir? sehr gerne, aber Nix passiert setzt meiner Meinung nach noch mal eins drauf. Sie schafft es nicht nur – wie gewohnt –, Weisheiten und harte Wahrheiten gleichermaßen wunderschön zu verpacken, sondern spiegelt auch Alex‘ Gemütszustand in seiner Sprache wider. Am Anfang, also kurz nach der Trennung, äußert er sich in kurzen, mit vulgären Ausdrücken gespickten Sätzen, die niemals ganz verschwinden, aber doch bedeutend abnehmen und längeren, komplexeren Gedankengängen weichen, die nicht mehr von rohen Gefühlen überwältigt sind. (Was nicht bedeutet, dass seine Schilderungen weniger weh tun. Vermutlich sogar mehr.)

Jede Erinnerung ist aus Stacheldraht, wie soll ich jemals wieder glücklich werden, wenn mich schon Weißwein an sie erinnert, wenn sogar einfach nur am Leben zu sein sich wie Selbstverletzung anfühlt?

Kathrin Weßling: Nix passiert. Berlin 2020, S. 39

Wenn ich meine Leseerfahrung mit Nix passiert in einem Wort beschreiben müsste, dann wäre dies wahrscheinlich ‚Schmerz‘ (jedoch ein guter). Einerseits glaube ich, dass das Buch einfach zum richtigen Zeitpunkt in mein Leben gekommen ist – obwohl Alex zehn Jahre älter ist als ich und ein ganz anderes Leben führt, sind die Gedankengänge, die er teilweise hat, mir nur allzu vertraut vorgekommen. Natürlich kann ich nicht für jede*n sprechen, aber in meinem Fall hat Kathrin Weßling in vielen Beschreibungen einfach den Nagel auf den Kopf getroffen, sogar Empfindungen verbalisiert, für die ich bisher noch nie die Worte gefunden hatte. Selbstverständlich ist es die Trennung, die Alex erst so richtig mit seiner Gefühlswelt konfrontiert, aber die Emotionen, die hochkommen, sind um einiges grundlegender und gewiss nicht erst mit der Trennung aufgekommen, sondern vielmehr von ihr aufgedeckt worden.

Während ich bei Super, und dir? noch kritisierte, dass mir der rote Faden fehlte, finde ich, dass Verlauf der Erzählung in Nix passiert um einiges stringenter und ausgewogener ist. Zwar gibt es auch hier Abschweifungen – und ich habe mich das ein oder andere Mal gefragt, wo die Geschichte wohl hinführen mag –, aber letztlich ist alles doch sehr stimmig, ohne einem linearen „Ich überwinde XY und dann bin ich geheilt“-Narrativ zu folgen oder einem unbezwingbaren Pessimismus zu verfallen. Es ist im Falle des Romans weniger ein bittersüßer Optimismus, der durchscheint, als vielmehr eine stoische, wenn auch nicht enthusiastische Haltung, irgendwie weiterzumachen.

Aber irgendwie muss man ja von ‚schlimm‘ zu ‚gut‘ kommen und das geht nur über ‚besser‘.

Kathrin Weßling: Nix passiert. Berlin 2020, S. 54

Während Alex‘ Gefühlswelt definitiv im Fokus steht, ist das Buch jedoch auch von einem Stadt-Land-Dualismus durchzogen. Die Stadt – Berlin im Falle von Nix passiert – ist chaotisch, laut, hier sind keine langfristigen, gesunden Beziehungen möglich, sondern nur Aneinanderreihungen von Eskapaden und Abstürzen. Zuverlässig wird auch der Topos der Nervenüberreizung, der spätestens seit Georg Simmels Die Großstädte und das Geistesleben (1903) in aller Munde ist, aufgegriffen. Kein Wunder: In Zeiten, wo man, wie Alex, den Lebenslauf von Ex-Partner*innen auf Social Media weiter verfolgen kann, und der W-Lan-Router auch nachts angeschaltet bleibt, sieht sich der*die Durchschnittsbürger*in kontinuierlich technischen Reizen ausgesetzt. Die Erfahrung der Stadt bzw. des Landes ist jedoch immer von der Darstellung abzugrenzen – interessant ist nämlich auch, wie Land und Stadt nach außen hin stilisiert werden. So hat Alex „getan, was in Berlin so üblich war – behauptet, [er] sei beziehungsunfähig“ (S. 28); sein Bruder Timo redet abfällig von Alex‘ „ach so tolle[r] Großstadtwelt“ (S. 85). Die Stadt scheint dabei nicht nur eine bestimmte Beschreibung zu erfordern, sondern sogar bestimmte Verhaltensmuster zu evozieren.

Dasselbe gilt für das Land in Nix passiert, eine fiktionale Kleinstadt namens Braus, die von Ordnung und Konformität geprägt ist. Weßling wählt hier allerdings nicht eine konsequente idyllische Verklärung – obwohl (natürlich) die Sprache von unberührter Natur, Wald, frischer Luft, etc. ist –, sondern enthüllt eingefahrene Denkweisen und bringt einiges an Gesellschaftskritik mit rein. Hier wird Alex verstärkt damit konfrontiert, warum er überhaupt vor all den Jahren unbedingt weg wollte, und stößt dabei auf eine Antwort, die er letztlich vor sich selbst verborgen hatte. All das beinhaltet Konfrontationen mit latenter Homophobie, toxischer Männlichkeit, der Stigmatisierung von psychischen Krankheiten. Am Ende bleibt nur noch die Wahrheit, kein einseitiges Bild von der Stadt oder dem Land, das zur eigenen Betäubung genutzt werden kann. Das beinhaltet eine finale Konfrontation: die von Alex mit sich selbst.

Und weil ich nichts war, wenn ich nicht gegen etwas sein konnte, suchte ich mir das Imaginäre als Feind, das Vergangene, das ich in Zukunft bestrafen würde mit dem, was ich mal sein könnte.

Kathrin Weßling: Nix passiert. Berlin 2020, S. 218

Nix passiert hat mich damit, wie man unschwer erkennen kann, auf jeder Ebene überzeugen können. Das Buch hat mich mitgenommen, immer mal wieder zum Lachen und noch viel öfter zum Nicken gebracht, und am Ende auch dazu, weinend im Flixbus zu sitzen. Hinter der Trennung-und-Rückzug-aufs-Land-Prämisse steckt so viel mehr als die Weiterführung laufender Diskurse, und jede Frage, die Alex an und über sein Leben aufdeckt, wird in demselben Moment auf die Leser*innen zurückgeworfen. Richtig, richtig gut.

Fazit

Zweifellos ist Nix passiert mein bisheriges Jahreshighlight. Kathrin Weßling schafft es, sich in dem riesigen Feld der Großstadtliteratur entschieden zu positionieren, indem sie nicht nur Topoi aufruft, sondern diese immer wieder geschickt mit allerlei Gesellschaftskritik verknüpft. Egal, ob sie über psychische Krankheiten, Alltägliches oder große Lebensfragen schreibt: Sie tut es in einer unverkennbaren, pointierten Art und Weise – und mit einem stoischen Willen, weiterzumachen.

Nix passiert ⚬ Klappenbroschur: 240 Seiten ⚬ Ullstein fünf ⚬ 18€

Vielen Dank an den Ullstein Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Du magst vielleicht auch

Ein Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.