Normal People von Sally Rooney – eine pointierte Darstellung der Millennial-Kultur?

Heute gibt es mal eine etwas andere Rezension – und zwar mit einem Gast: Fabi. Wir haben uns im Studium kennengelernt, unsere Freundschaft stetig vertieft und vor anderthalb Jahren kurzerhand einen Podcast gegründet, Queerverweise (zu hören auf der Plattform eures Vertrauens, z. B. Spotify). In dem Podcast sprechen wir über so ziemlich alle Medien, die uns gerade bewegen; ob Serie oder Film, Musik oder auch das ein oder andere Buch. Es war auch Fabi, der Normal People zuerst las und sagte: Ich schick dir das Buch, sag mir mal, was du darüber denkst. Glücklicherweise hatte er auch Lust, das Ganze bis ins letzte Detail mit mir auszudiskutieren. Aber genug der Vorworte:

Inhalt

Marianne und Connell könnten nicht unterschiedlichere Leben führen. Er ist beliebt in der Schule, sie nicht. Sie kommt aus einer reichen Familie, er nicht. Dass sie ein paar Mal miteinander etwas hatten, halten sie geheim. Als sie das College besuchen, verändert sich die Beliebtheits-Dynamik, aber eines bleibt gleich: dass ihre Leben auf eine unverwechselbare Art miteinander verschlungen sind, ganz egal, wie sehr sie versuchen, ohne den anderen auszukommen.

Diskussion

Isa: Fabi, Du hast mir Normal People empfohlen und gemeint, es könnte mir gefallen. Leider habe ich das Buch mit gemischten, durchaus widersprüchlichen Gefühlen beendet – dafür ist es umso besser, dass ich mich mit Dir darüber austauschen kann. Danke dafür! Ich bin nämlich noch ein wenig unentschlossen, was ich darüber denken soll. Ist es eine Liebesgeschichte? Ein Portrait von zwei Menschen, die die Finger nicht voneinander lassen können, obwohl sie einander nicht gut tun? Eine Erzählung von Co-Dependenz? Ein Coming-of-Age-Roman? Alles oder nichts davon? Was meinst du?

Fabi: Puh, schon zu Beginn so eine schwierige Frage! Aber ja, ich denke, ich würde dem Buch Elemente all dieser Genres zuschreiben: Wir haben eine, durchaus klassische, Liebesgeschichte zweier Menschen mit komplett gegensätzlichem Status und aus völlig verschiedenen Welten. Sicherlich hat der Roman auch Coming-of-Age-Elemente: Es gibt den ersten Sex, die erste große Liebe, die ersten Drogen, die erste Wohnung, der Beginn in einer neuen Stadt, der Beginn des Studiums. Und ja, auf jeden Fall bekommen wir einen intensiven Einblick in eine Beziehung, in der Co-Dependenz ein großes Thema ist – was aber (Gott sei Dank!) auch heftig problematisiert und angegangen wird. Ich muss dir allerdings schon an dieser Stelle leider widersprechen, denn für mich sind Connell und Marianne schlussendlich genau die Richtigen füreinander. Zwar lässt sich über die Auflösung von Mariannes Handlungsstrang streiten; dennoch würde ich sagen, dass das Buch einen Unterschied zwischen „to depend on“, also, sich auf jemanden ein- und verlassen können, und „dependency“, also, Abhängigkeit, macht. Ich würde behaupten, dass die Beziehung von Connell und Marianne sich von letzterem zu ersterem entwickelt, gemeinsam mit ihnen: Wir haben zwei junge Menschen, die erwachsen werden, sich ihren psychischen Krankheiten und ihren Mitmenschen stellen müssen und miteinander wachsen und reifen und sich dabei zu unterstützen versuchen. Wo würdest Du mir denn zustimmen und wo widersprechen und was hältst du denn eigentlich von den Charakteren?

Isa: Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits stimme ich Dir zu: die Unterscheidung zwischen “to depend on” und “dependency” wird durchaus stark gemacht – da gibt es ja auch ein treffendes Zitat von Marianne. Trotzdem habe ich, wenn ich an Connell und Marianne zusammen denke, nach wie vor ein ungutes Gefühl. Ich konnte definitiv sehen, dass sich ihre Beziehung in die Richtung „depend on“ entwickelt hat, aber gleichzeitig hatte ich immer den Eindruck, dass sie zusammen nur nicht ganz so sehr leiden wie getrennt. Als ich das Ende gelesen habe – ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten –, fiel es mir schwer, optimistisch zu sein. Irgendwie sah ich nur einen weiteren Zyklus von Nähe-Distanz-Aushandlungen mit einer ordentlichen Portion Schmerz vor mir. Das macht Normal People vermutlich zu einer der deprimierendsten Liebesgeschichten, die ich jemals gelesen habe. Meine Meinung zu den Charakteren ist ähnlich ambig wie ihr Verhältnis zueinander – manchmal war ich voll bei ihnen und habe mitgefühlt, andere Male erschienen sie mir sehr fern und wieder andere Male wollte ich sie einfach nur schütteln. Das habe ich auch oft in anderen Rezensionen kritisiert gesehen – dass die beiden manchmal einfach nicht miteinander reden, und dass das einigen Konflikten den Wind aus den Segeln genommen hätte. Ich glaube, ein Teil meines Unverständnisses rührt aber auch daher, dass es nach jedem Kapitel einen Zeitsprung über Wochen oder Monate gibt und Teile des Dazwischens nur unbefriedigend ausgefüllt werden.

“No one can be independent of other people completely, so why not give up the attempt, she thought, go running in the other direction, depend on people for everything, allow them to depend on you, why not.”

Sally Rooney: Normal People. London 2019, S. 262.

Fabi: Ich finde es spannend, dass gerade das, was du kritisierst, mir eben am Buch gefallen hat. Die Zeitsprünge werden meiner Meinung nach eigentlich relativ elegant und lückenlos aufgefüllt und die noch offen bleibenden Momente des Dazwischens (wie zum Beispiel die romantischen Beziehungen, die die beiden zu anderen haben) haben auch keine Bedeutung für die Handlung an sich. Ich kann verstehen, warum du die Beziehung der beiden als deprimierend empfindest, aber ist sie nicht eigentlich sehr realitätsnah und entspricht dem Denken und Handeln vieler Millennials? Die Angst, verletzt zu werden und deswegen keine Bindungen zuzulassen; das gegenseitige Missverstehen, weil man nicht glaubt, dass der/die eine*n den/die andere*n nicht so liebt und braucht, wie man den/die andere*n; der Selbsthass und die Selbstzweifel, die zu Taten führen, die völlig entgegen des eigenen Willens geschehen? Wie gesagt, für mich ist es die Beziehung zweier mental kranker Menschen, ein klassisches „With-Or-Without-You“, wodurch wir hier wieder natürlich zum Begriff der Co-Dependenz kommen. Ich habe aber beide, Marianne und Connell, sehr ins Herz geschlossen. Zwar haben sie mich aufgeregt und genervt, aber ich fand sie und ihre Handlungen so relatable und authentisch, dass ich eigentlich immer mit den beiden mitgefiebert habe. Dass sie einem fern wirken konnten, habe ich tatsächlich als eine große Stärke des Romans, resultierend aus den zwei verschiedenen Perspektiven, wahrgenommen – da sie einander über große Strecken des Romans nicht vertrauen, vertrauen wir ihnen auch nicht. Im Vergleich zu „Wayward Son“ von Rainbow Rowell, das ich kurz davor gelesen habe, wurden hier die verschiedenen Fokalisierungen großartig ausgenutzt und es störte nicht, einen Moment nochmal aus einer zweiten Perspektive zu lesen – so wurden nämlich die bescheuerten Missverständnisse mit ihren jeweiligen Selbstzweifeln begründet und zumindest für den/die Leser*in aufgelöst. 

Isa: Ich muss zugeben, dass „Millennial-Geschichten“ für mich oft zwischen Hit und Miss changieren und dass diese Kommunikations- und Bindungsschwierigkeiten bei mir eher Unverständnis und Frustration erzeugen als anderes. Der Mental Health-Struggle hingegen, die immensen Umbrüche, die die Studienphase mit sich bringen kann – mit dem konnte ich mich schon wesentlich mehr identifizieren. Aber dieses Lebensgefühl, das der Roman vermittelt/vermitteln soll, spielt ja auch ganz stark in den Hype mit hinein, der darum entstanden ist. Es war auf der Longlist des Man Booker Prizes (hier ist die Begründung zu finden) und Refinery 29 hat Rooneys Bücher zum Instagram-Status-Symbol, also wohl zum ultimativen Millennial-Emblem, erklärt. Auch in den Bloggerkreisen, in denen ich mich bewege, wurden Rooneys Bücher seit Monaten gelesen und besprochen (Katharinas Rezension hat mich besonders zum Nachdenken angeregt) und mir ist ebendiese Polarisierung, die auch wir beide irgendwo verkörpern, in diesen Diskussionen aufgefallen. Es scheint entweder vollkommen Klick mit Rooneys Büchern zu machen oder nicht, aber wie das zu begründen ist, ist mir noch nicht vollkommen klar (Normal People polarisiert bspw. auch innerhalb einer Altersklasse unterschiedlich stark). Obwohl mir aufgefallen ist, dass auch viele den Schreibstil zu banal fanden. Persönlich mochte ich ihn, da er nicht von der Geschichte abgelenkt und diese bestenfalls unterstützt hat. Nach wie vor verstehe ich daher nicht so ganz, was bei mir noch zu diesem Klick-Gefühl gefehlt hätte.

Fabi: Lustigerweise heißt es in dem oben von dir erwähnten Refinery 29-Artikel aber auch, dass Rooney und ihre Held*innen selbst komplette Antithesen zu dem Hype um sie und ihre Bücher darstellen, was ich irgendwie noch bemerkenswert finde. Conversations With Friends, ihren Erstling, habe ich ebenfalls gelesen und auch sehr gerne gemocht, obwohl dieser einige Längen hatte und abgesehen von der Protagonistin die Figuren im Vergleich irgendwie weniger ausgereift als Marianne und Connell erscheinen. Bereits da verwendet sie diesen Schreibstil, den ich echt richtig gut finde, obwohl er nicht allzu besonders ist: Diese leichte, unkomplizierte Sprache mit den einfachen, aber durchdachten Metaphern gepaart mit inneren Monologen und drehbuchreifen Dialogen. Denkst Du darüber nach, auch Conversations With Friends zu lesen oder bist Du jetzt komplett von Rooney abgeschreckt? Und hat es etwas gegeben, das du uneingeschränkt gut an Normal People fandest? 

Isa: Ich bin grundsätzlich nicht abgeneigt, auch noch Conversations With Friends zu lesen, aber ein akutes Bedürfnis danach habe ich (noch) nicht. Ich könnte mir aber gut vorstellen, ein zukünftiges Werk von Rooney zu lesen – gerade, da Du meinst, dass man quasi eine Weiterentwicklung von ihrem Erstling entdecken kann. Etwas, das ich uneingeschränkt gut fand – puh, gute Frage. Es gab eher Momente, in denen ich mir dachte: Yes, das ist es. Zum Beispiel gibt es eine Szene, in der Connell einen seiner tiefsten Punkte im ganzen Roman hat, dann aber sich nur für einen Augenblick in Notizen für eine Geschichte versenkt und sich denkt: „Life offers up these moments of joy despite everything.“ (S. 222) Und, woah, an diese Stelle muss ich immer und immer wieder noch denken. Ich finde, dass Rooney sowohl Depressionen als auch toxische Familienverhältnisse ungemein gut darstellen kann. Bezüglich letzterem gibt es eine Stelle gegen Ende des Buchs – die ich nicht verraten will –, die für Marianne ungemein entscheidend ist. Da ist die Beklemmung so richtig in mir hochgekommen, aber auf eine gute Art und Weise, wenn das Sinn macht? Auf jeden Fall: Die Darstellung der Irrwege, auf die uns unsere Psyche führen kann, ist brillant, und allein deswegen bin ich schon froh, das Buch gelesen zu haben. Was war denn Dein Highlight des Buchs? Und wer, glaubst Du, würde die Zielgruppe dafür darstellen?

Fabi: Ich hätte es ehrlich gesagt nicht besser ausdrücken können, deswegen stimme ich Deinen oben genannten Punkten zu und versuche nur noch zu ergänzen. Highlight für mich war auch das Setting und damit meine ich zum einen Irland und Dublin als Handlungsort, der mir ehrlich gesagt noch nicht so oft als Setting begegnet ist. Dazu mag ich an Rooneys Romane auch das Studierendensetting, sodass es mir natürlich noch leichter fällt, mich mit Marianne und Connell  zu identifizieren: So wird bereits bei Conversations With Friends locker-lässig über Autor*innen wie Caryl Churchill geschrieben oder kommunistische Theorien breitgetreten, während in Normal People oft über den Syrien-Konflikt oder die Snowden-Affäre diskutiert oder ein entwaffnender Blick auf Literaturveranstaltungen geworfen wird. Connells und Mariannes Gespräche an sich haben sich einfach für mich angefühlt, als hätte jemand ein Mikrofon bei mir aufgestellt und mich und meine Freund*innen beim Diskutieren abgehört. Ebenfalls mochte ich, wie Status innerhalb des Romans verhandelt wurde: Es wird ziemlich deutlich, was eine gewisse soziale Stellung für Druck und Probleme mit sich bringt, was entweder im Kleinen, heißt in der Schule oder in der Uni der beiden stattfindet, wo jeweils eine*r der beiden populär und der/die andere unbeliebt ist (eine nette Gegenüberstellung, wie ich finde), aber auch im Großen stattfindet, was sich in Connells Armut und Mariannes reicher Herkunft widerspiegelt, die schließlich auch zu Problemen zwischen den beiden führt. Und für wen ist das Buch was? Für Millennials und die, die es werden wollen, und für Menschen, die sich an einer nicht klassisch klassischen Liebesgeschichte erfreuen. Hast Du noch was hinzuzufügen, Isa?

Isa: Eigentlich nur noch eins – aus Normal People wurde in der Zwischenzeit auch eine Hulu-Serie gemacht, die Ende April erscheinen wird. Persönlich finde ich den Trailer sehr bewegend, auch wenn er die Themenbreite des Romans zu schmälern scheint. Ich hoffe, dass sie sich für ‚den ganzen Rest‘ in den zwölf Folgen mehr Zeit nehmen, und bin gespannt. Vielen Dank für die Diskussion!

Fazit

Isa: Normal People hat mich zwiegespalten zurückgelassen: Einerseits hat mich das Buch sehr mitgerissen und bewegt, andererseits habe ich mich beim Lesen zuweilen richtig unwohl gefühlt und wollte die Charaktere am liebsten nur schütteln. Die Rezensent*innen, die „Kommuniziert doch endlich mal!!“ plädieren, kann ich also gut verstehen – gleichzeitig ist die Repräsentation von Mental Health, dem Studierendenleben und (subtile) Kritik an gesellschaftlichen Missverhältnissen extrem gut gelungen.

Fabi: Normal People hat mich im richtigen Moment abgeholt, sodass ich es innerhalb weniger Tage verschlungen habe. Für mich ein idealer Lesegenuss mit zwei Hauptfiguren, mit denen man sich leicht identifizieren kann und deren Geschichte noch lange in mir nachhallen wird. Dazu ein einfacher und dennoch gelungener Schreibstil, der die verschiedensten Themen mit Leichtigkeit zu balancieren weiß.

Normal People ⚬ Taschenbuch: 304 Seiten ⚬ Faber & Faber ⚬ ca. 8,99€

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3 Kommentare

  1. Ihr habt einen Podcast? Das ist ja völlig an mir vorbei gegangen, muss ich heute gleich mal reinhören 🙂

    Diese Art von Rezension ist mal was anderes und bringt Abwechslung rein. Gerade da eure Meinungen nicht komplett übereinstimmen und so wirklich eine Diskussion entsteht.

    Ich lese inzwischen sehr selten Rezensionen und nur noch zu Büchern die ich entweder schon gelesen habe oder nicht sicher bin ob ich es lesen will. ‚Normal People‘ trifft beides nicht zu, vielleicht liegt es daran dass mir der Beitrag etwas lange vorkam.
    Aber das Fazit am Schluss fand ich wiederum sehr gut gelungen, so sieht man die zwei verschiedenen Meinungen direkt auf einen Blick 🙂

    Liebe Grüsse
    Julia

    1. Hihi ja, ich habe das nie groß beworben. 😀

      Vielen lieben Dank für dein Feedback! Ich hatte schon befürchtet, dass der Beitrag ein bisschen zu lang geworden sein könnte – beim nächsten Mal werde ich verstärkt darauf achten, ich nutze Rezensionen nämlich eigentlich genau so wie du.

      Alles Liebe
      Isabella

  2. Ich habe gerade Euer Gespräch über das neue Buch von S. R.gelesen. Sehr interessant, hat mir sehr gut gefallen. Finde auch, dass ein mehrpoliges Gespräch viel mehr bringt als eine herkömmliche Rezension, die ich zwar meist lese, die aber auch ziemlich kritisch, weil ich mir immer sage, na, vielleicht ist das ja total eindimensional, und gibt nur eine sehr persönliche Meinung wieder, auf die ich mich nicht verlassen kann und möchte. Mit der ich ggfs. gar keinen Konsens finden würde. Deshalb rede ich, so ähnlich wie Ihr, am liebsten mit einer od. Freund/in über ein Buch. Und da stelle ich eben immer wieder fest, wie interessant die Gespräche sind, auch deshalb, weil wir oft verschiedener Meinung sind und viele verschiedene Fragen haben.
    Ansonsten habe ich nur das Buch „Gespräch mit Freunden“ gelesen und fand es sehr bewegend, auch total spannend und unter die Haut. Einerseits traurig und melancholisch, die Charaktere kompliziert, ein bisschen, aber auch mutig und vor allem unkonventionell. Es gefällt mir auch diese Mixtur aus Liebesgeschichte und kleinen polit. Exkursionen.
    Und manchmal, denke ich, spiegelt es genau das Heute wieder, mit den Ängsten, Unverbindlichkeiten, Unsicherheiten, bis in die verhexten Beziehungen hinein. Weil nichts einfach ist.
    Liebe Grüße
    elke

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