Für immer die Alpen von Benjamin Quaderer

Trigger-Warnung für Folter

Inhalt

Johann Kaiser, Sohn eines Fotographen und Weltenbummlers, Sohn einer Mutter, die irgendwann ging und nicht mehr aufzufinden war, der irgendwann in einem Kinderheim landete und schon bald lernte, dass er seine Identität an seine Bedürfnisse anpassen konnte – musste –, Johann Kaiser, Bürger Liechtensteins, der eines Tages zum Dieb von Kundendaten einer Bank wird. Bei den darauffolgenden Prozessen geht es ihm nicht um Geld, sondern um Gerechtigkeit, und nicht zuletzt deswegen greift er zum Stift – um seine Geschichte so zu erzählen, wie sie wirklich passiert ist, nicht so, wie die Öffentlichkeit sie zu zeichnen versucht.

Meine Meinung

Wäre ich nicht zufällig über eine Leseprobe von Für immer die Alpen gestolpert, hätte ich vermutlich nie nach dem Buch gegriffen – Cover und Titel sind unscheinbar, der Klappentext hätte mich auch nicht überzeugen können, was habe ich schon mit Liechenstein und Steuern am Hut? Als das Buch letztes Jahr erschienen ist, habe ich nichts davon mitgekriegt, obwohl es von der Zeit und dem Spiegel durchaus wohlwollend rezensiert wurde. Aber dann gibt es diese ersten Sätze, die einen Sog auf mich ausübten:

Mein Name war einmal Johann Kaiser. Wahrscheinlich haben Sie von mir gehört. Ich bin vierundfünfzig Jahre alt, von Sternzeichen Widder und lebe unter neuer Identität an einem Ort, von dem ich zu meinem eigenen Schutz nicht erzählen darf.

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. München 2020, S. 9.

Nach diesem Vorwort, in welchem Kaiser abschließend den Leser*innen eine „angenehme, aber aufrüttelnde Lektüre wünscht“ (S. 13), springt der Erzähler einige Jahrzehnte zurück und beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen, die sogar noch das Kennenlernen seiner Eltern miteinschließt. In insgesamt fünfzehn Büchern, die immer einen definierten Zeitabschnitt umfassen, arbeitet er sich langsam durch die Begebenheiten seines Lebens – und er macht es so sorgfältig, wie man es von ihm als Erzähler erwarten würde, aber gleichzeitig so penibel, dass ich mich ab der Hälfte des Buchs immer wieder fragte: Halt mal, wo sind wir eigentlich gerade? Die eigentlich halbwegs überschaubar erscheinende Geschichte wurde zunehmend schwerer zu bewältigen, und insgesamt brauchte ich fast einen Monat, um das Buch zu lesen. Obwohl man vielleicht einwenden könnte, dass das auch meine Verfehlung war. Interessant ist jedoch, dass auf den letzten Seiten des Buchs Kaiser seine Leser*innen dazu aufruft, seiner Geschichte mehr Zeit zu schenken, sie ruhig noch einmal zu lesen. Und irgendwie leuchtet mir das ein, irgendwie glaube ich, dass sich das lohnen könnte.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass Für immer die Alpen seinem Autor gleichzeitig sehr viel Spaß und regelmäßig Kopfschmerzen bereitet hat. Der Roman ist vor allem ein Spiel mit der Fiktion, und eines mit der Form. Schon auf den ersten Seiten stellte ich zu meiner Freude fest, dass es Fußnoten gibt, die Kaisers ‚Quellen‘ darstellen, aber in denen er auch oft schlichtweg sich selbst zitiert. Denn er muss ja jede Minute seiner Lebensgeschichte dokumentieren, er ist die Legitimationsinstanz. Andere Spiele mit der Form finden sich in geschwärzten Passagen – natürlich zur Sicherheit Kaisers und aller beteiligten Personen –, es gibt einen Abschnitt, der beinahe vollständig in Fußnoten erzählt wird, und schließlich gibt es einen, der parallel links in roter Schrift aus der Perspektive eines Kriminalpsychologen, rechts ‚wie üblich‘ aus Kaisers Perspektive erzählt. Ja, man muss teilweise viel vor- und zurückblättern, und ich habe schon gelesen, dass das Buch im Kindle-Format eher unhandlich sei – das solltet ihr vielleicht im Hinterkopf behalten.

Was die Spannung von Fiktionalität und Faktualität anbetrifft, könnte ich gefühlt eine ganze Abhandlung darüber schreiben, einerseits, weil es mich sehr fasziniert, andererseits aber auch, weil es für mich beinahe das eigentliche Thema das Romans ist. Als es schließlich inhaltlich um den Datenklau geht, hatte ich schon beinahe vergessen, dass das ja auch irgendwann mal passieren sollte. Alles andere ist viel dominanter: Wie Kaiser von Anfang an als Erzähler auftritt, der behauptet, die wahre Sequenz der Ereignisse zu erzählen, sich selbst permanent als Quelle ausgibt und das nur in dem oben erwähnten Fußnoten-Abschnitt abschwächt, als er einräumt, seine Erinnerung sei bei diesen Ereignissen nicht so gut und er habe daher alles in die Fußnoten gepackt, was womöglich nicht so passiert sei. Selbst der Haftungsausschluss wird in dieses Spiel mit hineingezogen, wenn es am Ende des Buchs heißt:

Dieses Buch ist ein Roman. Als literarisches Werk schafft es eine ästhetisch neue, künstlerisch-überhöhte Wirklichkeit, indem es zwar in einzelnen Passagen an reale Geschehen anknüpft, aber stets Anklänge an tatsächliche Vorkommnisse mit künstlerisch gestalteten, fiktiven Schilderungen vermengt.

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. München 2020, S. 590.

Und so wird es noch einige Zeilen weiter auf die Spitze getrieben. Euch wird vielleicht schon mal aufgefallen sein, dass solche Haftungsschlüsse in jedem Roman zu finden sind. Sie sollen „eine Identifizierung mit der Wirklichkeit in rechtsverbindlicher Form ausschließen.“1 Im Regelfall muss man sich nicht auf diesen Haftungsausschluss berufen, denn Leser*innen und Autor*innen gehen meist ‚Fiktionsverträge‘ ein: Leser*innen „sollten vor – und ggf. während – der Lektüre wissen, dass das, was sie im Romantext lesen, nicht geschehen ist und dass es sich vielmehr um eine Fiktion handelt.“2 Ebenfalls ist im Regelfall davon auszugehen, dass es Signale auf der Textseite gibt, die diese Fiktionalität anzeigen (wenngleich die Forschung sich über diese Signale nach wie vor streitet, aber das sei hier ausgeklammert). Ein sehr deutliches Zeichen dafür sind Gattungsbezeichnungen, die zu den sogenannten ‚Peritexten‘ (Genette) zählen. Vielleicht ist euch schon mal aufgefallen, dass bei fiktionalen Werken meist noch irgendwo die Bezeichnung ‚Roman‘ aufgedruckt ist – so auch bei Für immer die Alpen.

Dieser kleine Fiktionalitätsexkurs findet sich nicht nur hier im Beitrag, weil ich vor einem Jahr ein Seminar dazu hatte und nun verzweifelt versuche, das Wissen unterzubringen (über die Fiktionalität dieser Aussage darf ruhig spekuliert werden), sondern weil ich hoffe, damit etwas deutlicher machen zu können, was mich so sehr am Text fasziniert hat. Ich glaube immer noch nicht, dass das die Länge des Textes rechtfertigt, aber der Erzähler, den Quaderer erschaffen hat, ist wirklich einer der originellsten, dem ich seit langem begegnet bin, gerade weil er in seiner Erzählung diesen Schwall an Prätexten und Gattungstraditionen mitnimmt. Und weil sich zum Ende hin aus dem Trott der Erzählung die Realisation andeutet, dass das Fortleben einer jeden Geschichte unsicher ist:

Wenn Sie diesen Text lesen, gibt es eine Möglichkeit, mich am Leben zu halten. Ja. Erzählen Sie allen von mir. Ja! Erzählen Sie allen meine Geschichte. Ja! Ja! Ja! Erfinden Sie, wenn Sie mögen, ein bisschen dazu, doch wirklich nicht mehr als ein bisschen.

Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. München 2020, S. 585.

Ja, man kann leicht ergoogeln (wenn man es nicht ohnehin weiß), dass Johann Kaiser von einem gewissen Heinrich Kieber inspiriert ist, der angeblich vor einigen Jahren deutschen Behörden Informationen über vermeintliche Steuerhinterzieher zuspielte. Aber das ist für die Lektüre von Für immer die Alpen fast nebensächlich: Der Inhalt verneigt sich vor der Erzählweise.

Fazit

Für immer die Alpen ist ein beeindruckender Debütroman, wenn auch etwas zu lang geraten und sehr dominiert durch das Fiktionalitäts-Faktualitäts-Spiel, das der Erzähler treibt. Das macht den Roman zuweilen etwas trocken, aber gerade auch so unterhaltsam. Ich würde eine vorsichtige Empfehlung aussprechen, wenn ihr Lust auf einen sehr modernen, aber gleichzeitig traditionsreichen Erzähler habt.

Für immer die Alpen ⚬ Hardcover: 592 Seiten ⚬ Luchterhand ⚬ 22€ ⚬

Vielen Dank an das Bloggerportal für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars!

Fußnoten

1 Harald Haferland: Fiktionsvertrag und Fiktionsanzeigen, historisch betrachtet. In: Poetica 46/1-2 (2014), S. 41–83. Hier S. 44.

2 Ebd., S. 43.

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Ein Kommentar

  1. Ich hatte auch schon mal ein ähnliches Seminar, da ging es um Biografien, die in gewisser Weise fiktional sind. Sagt dir Nat Tate was bzw. generell der Autor William Boyd? Der spielt sehr viel mit solchen Formaten. Ich finde die Bücher selbst meist nicht so spannend, aber das theoretische Drumherum mit dem Spiel von Fiktionalität und Faktualität und dem Vertrag zwischen Schreibenden und Lesenden auch unheimlich spannend.

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