Vier kurze Bücher für Zwischendurch

Versteht mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen lange bzw. längere Bücher, auch die haben absolut eine Existenzberechtigung. Aber ich habe besonders in diesem Jahr, das meine Aufmerksamkeitsspanne und mein generelles Buch-Commitment auf den Kopf gestellt hat, kürzere Bücher zu schätzen gelernt. Ganz gleich, ob ihr eine Leseflaute habt oder noch ein paar Bücher für euer Goodreads-Ziel sammeln möchtet: Hoffentlich ist unter den hier vorgestellten Büchern eines dabei, das für ein paar Stunden auch eure Aufmerksamkeit fesseln kann.

Every Heart a Doorway von Seanan McGuire

Every Heart a Doorway beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich mit all den Kindern passiert, die durch eine magische Tür in eine andere Welt getreten sind – so wie Alice ins Wunderland oder die Kinder nach Narnia –, wenn sie in ihre ursprüngliche Welt zurückkehren. Schnell wird ersichtlich, dass sie traumatisiert sind, wenn auch nicht von irgendwelchen Kidnappern, wie ihre Eltern annehmen. Vielmehr sehnen sie sich danach, zurückzukehren – auch wenn es nur den wenigsten von ihnen gelingt.

Nancy ist eine der Zurückgekehrten, und weil ihre Eltern nicht wissen, wie sie mit ihrer Tochter umgehen sollen, wird sie zu Eleanor West‘s Home for Wayward Children geschickt, wo sie sich unter Gleichgesinnten befindet und lernen soll, mit ihrer Rückkehr umzugehen. Doch anstatt sich voll und ganz auf die Therapie einlassen zu können, wird die Institution bald von Morden heimgesucht, und Nancy muss sich auf Spurensuche begeben.

„[…] You know, I read Alice‘s Adventures in Wonderland when I was a kid, and I never thought about what it would be like for Alice when she went back to where she‘d started. I figured she‘d just shrug and get over it. But I can‘t do that. Every time I close my eyes, I‘m back in my real bed, in my real room, and all of this is the dream.“

Seanan McGuire: Every Heart a Doorway. New York 2016, S. 51.

Every Heart a Doorway packt ungemein viel in seine Kürze: einen wunderschönen Schreibstil, einen diversen Cast (Nancy ist asexuell, eine wichtige Nebenfigur trans) und zahlreiche Kommentare zu gesellschaftlichen Themen. Der Plot kommt dabei etwas zu kurz – er ist teilweise sehr offensichtlich und gleichzeitig widersprüchlich –, die meisten Nebenfiguren bleiben oberflächlich charakterisiert, aber das Gesamtpaket passt zweifellos und hat mich ungemein beeindruckt. Ihr solltet allerdings mit der einen oder anderen durchaus graphischen Beschreibung rechnen.

Every Heart a Doorway ⚬ Hardcover: 176 Seiten ⚬ Macmillan USA ⚬ Kaufen?* ⚬


Die Unschärfe der Welt von Iris Wolff

Die Unschärfe der Welt verhandelt die Geschichte einer Familie über vier Generationen im Banat (heute Rumänien, Serbien, Ungarn) der 1970er und 1980er – und das auf knapp zweihundert Seiten. Es ist beeindruckend, wie präzise es Wolff gelingt, Verknüpfungen herzustellen und Figuren zu charakterisieren; es gab lediglich ein, zwei Sichtweisen, die mir etwas zu verknappt waren und mich eher ratlos zurückließen. Abgesehen davon zeichnet die Autorin auf berührende Art und Weise, wie die Leben verschiedenster Menschen zusammenhängen und sich immer wieder überschneiden, all das vor dem Hintergrund des kommunistischen Regimes, das einen Ausnahmezustand im Land und in den Leben der Erzähler*innen hervorruft. Es ist auch schön, wie immer wieder das Thema Sprache aufkommt: Ob es darum geht, in welcher Sprache etwas gesagt wird und wer diese Sprache beherrscht, oder ob Beziehungen zwischen Ungesagtem und Unsagbarem ausgehandelt werden. Damit wird Die Unschärfe der Welt zu einem Buch, bei dem ich mir gut vorstellen kann, dass es auch nach mehrmaligem Lesen noch einiges zum Entdecken bereithält.

Der Eiserne Vorhang, hieß es, war zerbrochen, und Bene dachte darüber nach, wie selbstverständlich man in Metaphern lebte. Auch etwas, das über Jahrzehnte das Leben unzähliger Menschen bestimmt hatte, konnte fallen, konnte zerbrechen, und er fragte sich, ob Metaphern Erfahrungen verbergen oder zum Vorschein bringen. Wenn man anders darüber sprach, würde man es auch anders erleben?

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Stuttgart 2020, S. 163.

Die Unschärfe der Welt ⚬ Hardcover: 216 Seiten ⚬ Klett-Cotta ⚬ Kaufen?* ⚬


Eure Heimat ist unser Albtraum, hg. von Hengameh Yaghoobifarah und Fatma Aydemir

Falls ihr aus irgendeinem Grund noch nicht diese Essay-Sammlung, die Yaghoobifararah und Aydemir anlässlich des Heimatministeriums zusammengestellt und herausgegeben haben, gelesen haben solltet, kann ich euch nur ans Herz legen, das unbedingt nachzuholen. Die Problematisierung und i. d. R. auch Ablehnung des Heimatbegriffs steckt in jedem Essay, aber gleichzeitig könnten die Antworten der Autor*innen nicht unterschiedlicher sein. So geht z. B. Mithu Sanyal, ausgehend von der überholten Frage „Wo kommst du eigentlich her?“, der Geschichte und Gegenwart des Heimatbegriffs zwischen der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus und Staatsangehörigkeitsfragen nach. Max Czollek hingegen entwickelt die Strategie der Gegenwartsbewältigung als „Versuch, die Gegenwart fortwährend so einzurichten, dass sich die gewaltvolle deutsche Vergangenheit nicht wiederholt“, was zu einem „Bewusstsein, dass es der permanenten Arbeit an sich selbst und der Gesellschaft bedarf“ (S. 179), führt. Ganz gleich, wessen Essay ich gelesen habe – etwas dazugelernt habe bei ausnahmslos jeder*m Autor*in.

Eure Heimat ist unser Albtraum ⚬ Hardcover: 208 Seiten ⚬ Ullstein fünf ⚬ Kaufen?* ⚬


Stadt der Feen und Wünsche von Leander Steinkopf

Der Plot von Stadt der Feen und Wünsche ist denkbar einfach: Drei Tage lang flaniert ein Ich-Erzähler durch Berlin. Das Thema ist alles andere als neu, und dennoch hatte ich die Hoffnung, dass Leander Steinkopf kreativ mit der Tradition umgehen würde. Stattdessen war alles ziemlich generisch: Der Ich-Erzähler ein privilegierter Mann mit Alkohol- und Frauenproblemen, die Ziel- und Zwecklosigkeit des Flanierens, und die Stadtkritik. Man könnte eigentlich sogar die gängigsten Topoi nehmen und ein Trinkspiel daraus machen.

Leider ist Stadt der Feen und Wünsche nicht nur Checklisten-generisch, sondern teilweise echt problematisch. In den zynischen Tiraden des Ich-Erzählers mischen sich sexistische Kommentare über beinahe jede Frau, die er sieht, abfällige Bemerkungen über politische Korrektheit und über Personen, die nicht dem Mittelstand angehören. Dadurch ist die Erzählung stellenweise echt unangenehm zu lesen, es entsteht unwillkürlich der Eindruck, dass sie nur existiert, damit der Autor unter dem Deckmantel eines „Man wird das ja wohl mal sagen dürfen“ seine persönlichen Meinungen loswerden kann. Was schade ist – denn zwischen all den Sentenzen finden sich doch der ein oder andere originelle Gedanke, wie man Flanerie und Großstadtdarstellung in unserer Gegenwart verhandeln könnte.

Stadt der Feen und Wünsche ⚬ Hardcover: 112 Seiten ⚬ Hanser Berlin ⚬ Kaufen?* ⚬

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