Unsre verschwundenen Herzen von Celeste Ng

Vor über einem Jahrzehnt ist PACT in Kraft getreten, der Preserving American Culture and Traditions Act. Seitdem wurden, um die ‚amerikanische Kultur‘ zu bewahren, unter anderem Nachbarschaftswachen eingeführt, Bücher entfernt und Kinder ihren Familien entrissen. Die Mutter des zwölfjährigen Bird, eine chinesisch-amerikanische Dichterin, ist vor drei Jahren verschwunden, und er weiß nicht, warum, nur, dass er so tun soll, als hätte es sie nie gegeben. Doch dann erhält er eines Tages einen mysteriösen Brief von seiner Mutter und begibt sich auf die Suche nach ihr …

Dystopie oder Realität?

Margaret Atwood sagte einmal über The Handmaid’s Tale: „I didn’t put in anything that we haven’t already done, we’re not already doing, we’re seriously trying to do, coupled with trends that are already in progress […]. So all of those things are real, and therefore the amount of pure invention is close to nil.“1 Genau dieses Gefühl stellt sich beim Lesen von Unsre verschwundenen Herzen ein: Nichts von dem, was Celeste Ng beschreibt, existiert nicht bereits in irgendeiner Form oder einer Vorstufe. Dazu braucht PACT nicht real zu sein. Wir müssen nur einen Blick ins Internet werfen, um seine Komponenten zu finden: Diskussionen um Romane, die verbannt werden sollen; Geschichten von Kindern, die von ihren Familien getrennt werden; Unmengen an rassistischen Vorfällen; Vorstellungen von einer ‚amerikanischen Kultur‘ (das Adjektiv kann hier beliebig ersetzt werden) und welche Leute ein Anrecht darauf haben; Einschränkungen von körperlicher Autonomie.

Dem Buch gelingt damit, was gute Gegenwartsliteratur ausmacht: Sie hält nicht nur der eigenen Realität den Spiegel vor, sondern zwingt die Leser*innen auch, das Unwohlsein auszuhalten. Unsre verschwundenen Herzen war für mich weitaus schwerer zu lesen als Ngs vorherige Romane – der Roman setzt sich vorrangig mit Leid auseinander, deckt Wunden auf und bohrt in anderen. Aber gerade deshalb sollte man ihn auch lesen, ob man die Autorin bereits kennt oder nicht. Fans von Celeste Ng werden ihren einfühlsamen Stil, der mit einer präzisen Figurenzeichnung einhergeht, wiedererkennen; Leser*innen, die sie neu entdecken, können mit Unsre verschwundenen Herzen gut einsteigen, da auch hier zentrale Themen ihres Werkes aufgegriffen werden: chinesisch-amerikanische Erfahrungen, Familien in verschiedensten Konstellationen und Bedeutungen und der Versuch, in einer immer enger werdenden Welt nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Zwischen Rebellion und Resignation

Trotz allem muss ich gestehen, dass mir Unsre verschwundenen Herzen weniger gut als die beiden anderen Romane von Celeste Ng gefallen hat – obwohl das Niveau natürlich sehr hoch ist. Und auch Unsre verschwundenen Herzen habe ich überwiegend gerne gelesen, wollte wissen, wie es weitergeht und war berührt von der Liebe zwischen Bird und seinen Eltern und den Opfern, die sie erbrachten und erbringen, damit sie ihren Sohn noch ein bisschen länger in Sicherheit wissen können. Dabei scheint der Roman aber nicht immer ganz zu wissen, aus welcher Perspektive er die Geschichte erzählen will, und kann dabei nicht gut genug zwischen den Stimmen der Figuren unterscheiden: Manchmal scheinen Birds Gedankengänge deutlich von einem Erwachsenen verfasst worden zu sein, dann verhält er sich wieder seinem Alter angemessen.

Was wir aus dem Blickwinkel seiner Mutter erfahren, ist in demselben Ton geschrieben, nur bleibt ihre Gedankenwelt komplett fern, das Unverständnis groß. Der Roman ist zwar vierhundert Seiten lang, hat aber Schwierigkeiten, seine Erzählung ausgewogen vorzunehmen. Manche Sachen bleiben rätselhaft – zum Beispiel die Ursachen für die ominöse Krise, die zu PACT führte –, andere Aspekte wie die Spurensuche nach Birds Mutter ziehen sich in die Länge. Ein wiederkehrendes, wenn nicht das zentrale Motiv des Romans ist das Geschichtenerzählen, und zuweilen scheint er sich darin zu verlieren und etwas an Stringenz einzusparen. Celeste Ng gelingt es allerdings, selbst diese Ab- und Umwege so fesselnd zu erzählen, dass man es ihr erst am Ende, mit Rückblick auf das Gelesene, übel nimmt.

Mein letzter Kritikpunkt am Roman ist schwer zu artikulieren, weil ich ihn weniger bei der Autorin verorte als bei den Schwierigkeiten, die mit dieser Form von Dystopie – also einer, die sehr, sehr nah an unserer Welt ist – einhergehen. Entwirft man eine großflächig veränderte Welt, wie es zum Beispiel Die Tribute von Panem oder auch Die Bestimmung gemacht haben, ist es leichter, sich von dem Geschehen zu distanzieren, leichter, große Rebellionen auf den Plan zu setzen. Aber das ist in der Welt von Unsren verschwundenen Herzen, die auch irgendwo die Welt von uns Leser*innen ist, nicht denkbar. Wie also könnte ein Abschluss für die Geschichte von Bird und seiner Mutter aussehen? Die Wahl, die Celeste Ng trifft, fand ich, gelinde gesagt, unterwältigend und auch irgendwo frustrierend – zu viel Spannung wurde in die Handlung eingebracht, aber nicht eingelöst. Andererseits kann ich mir nicht irgendein passendes Ende vorstellen: weil sie entweder zu harmonisch oder zu weltfremd wären, weil sie im schlimmsten Fall eine Lösung für etwas präsentieren würden, das immer noch andauert und nie einem stringenten Narrativ folgen wird. In diesem Sinne ist Unsre verschwundenen Herzen gewiss Celeste Ngs ambitioniertester Roman – und zweifellos einer, der viel mir in ausgelöst hat.

Fazit

Mit Unsre verschwundenen Herzen hat sich Celeste Ng auf neues Terrain begeben und eine Dystopie geschrieben, die beinahe als unsere Realität durchgehen könnte. Damit hat sie den Nerv der Zeit getroffen und ein wichtiges wie berührendes Buch verfasst, das ich neben kleineren strukturellen Kritikpunkten immer noch dringend empfehlen würde.

Unsre verschwundenen Herzen ⚬ übersetzt von Brigitte Jakobeit ⚬ Hardcover: 400 Seiten ⚬ dtv ⚬ 25€ ⚬

Herzlichen Dank an dtv für das Rezensionsexemplar!

1 Susanne Gruss: „People confuse personal relations with legal structures.“ An Interview with Margaret Atwood. In: Gender Queeries 8 (2004), http://genderforum.org/wp-content/uploads/2017/03/0408_GenderQueeries.pdf, S. 58–67, hier S. 61. Abgerufen am 10.10.2022.

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