Diese eine Entscheidung von Karine Tuil

Die Ermittlungsrichterin Alma Revel muss über die Festsetzung oder Freilassung eines jungen Manns entscheiden, der unter Terrorismusverdacht steht. Wenn sie nicht auf der Arbeit ist, geht sie zu einer zerbrechenden Ehe nach Hause – oder in das Bett ihrer Affäre. Und dann stellen die Folgen ihrer Entscheidung nicht nur ihr eigenes Leben auf den Kopf …

Theoretisch gut

Diese eine Entscheidung leuchtet den Arbeitsalltag einer Ermittlungsrichterin in einer Anti-Terror-Abteilung bis in letzte Detail aus. Dazu gehören politische wie moralische Fragen, persönliche Konsequenzen sowie Auswirkungen auf das Umfeld – privat, aber auch auf einer nationalen Ebene. Dass das Buch im Frankreich nach dem Anschlag auf die Redaktion des Charlie Hebdo sowie die Anschläge des 13. Novembers 2015 spielt, verleiht allem eine noch existenzialistischere Dimension. Gezeichnet wird ein Staat, dem das fundamentale Gefühl von Sicherheit gewaltsam entrissen wurde.

Bei Diese eine Entscheidung handelt es sich um den ersten Roman, den ich von Karine Tuil gelesen habe. Von der ersten Seite an ist der juristische Hintergrund der Autorin herauszulösen: Verfahrensabläufe, interne Vorgänge und berufliche Strukturen werden mit Souveränität und Präzision geschrieben – für meinen Geschmack leider zu viel. Der Duktus, in dem die Protagonistin sich selbst vorstellt, ist repräsentativ für den Rest des Romans: „Tag für Tag stoße ich an die Grenzen meiner Belastbarkeit und muss Stress bewältigen. Ich betrete mein Büro um 8 Uhr 30 und verlasse es um 19 Uhr – theoretisch, denn in Wirklichkeit sind wir in der Anti-Terror-Abteilung rund um die Uhr im Einsatz.“ (S. 19) Mit nüchternem telling statt emotionalem showing schlängelt sich Alma durch, ja, ihre Geschichte, aber auch durch all die Fakten ihres Berufs und staatlichen Strukturen.

Bis zum Ende des Romans konnte ich nicht das Gefühl abschütteln, eigentlich ein verkapptes Sachbuch vor mir liegen zu haben, in dem zufällig ein paar fiktive Figuren auftauchen. Diese Figuren haben dann auch ein dementsprechend mageres Innenleben, Alma – leider – mit eingeschlossen. Obwohl ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt wird, bleibt der Ton so analytisch-klinisch, dass ich zwar meistens ihre Entscheidungen auf einer theoretischen Ebene nachvollziehen konnte, aber zu keinem Zeitpunkt Empathie entwickelte. Insbesondere in Bezug auf ihre Affäre Emmanuel, der Strafverteidiger ist, also ihr Kollege, erwies sich die fehlende emotionale Nähe als verheerend. Gewissermaßen ist er Dreh- und Angelpunkt des Geschehens; doch ich grübelte das ganze Buch über, was genau eigentlich so besonders an ihm sein soll. Oder was er so besonders an Alma findet.

(Ver)Wirrungen

Leider hörten meine Probleme mit Diese eine Entscheidung nicht bei den Figuren auf. Neben der erzählerischen Vermittlung hatte ich auch ziemlich mit der Chronologie der Ereignisse zu kämpfen. Erst nach Beenden des Romans, als ich die eröffnenden Passagen ein zweites Mal las, verstand ich den Aufbau etwas besser. Das Buch beginnt mit der bereits getroffenen Entscheidung und springt dann zurück, um den Prozess zu schildern. Aber innerhalb dieser überspannenden Rückblende wurden weitere eingeschaltet, die meistens nicht klar markiert waren und mich weiter verwirrten. Auch im Nachhinein ist mir ehrlich gesagt nicht ganz klar, an welchem Punkt der Erzählung wir wieder in der ‚Gegenwart‘ ankommen – dass Tuil an einem scheinbar schlichtweg aus dramatischem Effekt gewählten Punkt ins Präsens springt, macht es nicht besser. Kurzum: Meine Leseerfahrung war oftmals von meiner Verwirrung bezüglich der Reihenfolge des Geschehens und teilweise auch der Zuordnung der Figuren dominiert.

Trotz aller Kritik muss ich zugeben, dass ich den Roman ungemein schnell verschlungen habe. Die Intensität des Geschehens und die Auszüge aus Verhör-Protokollen erzeugen eine Dringlichkeit, die mich doch neugierig machte, wie es weitergehen würde. Und auch wenn ich kein Fan von der Umsetzung bin, finde ich den Stoff des Romans ungemein wichtig. Almas Dilemma, ob sie mit einer Inhaftierung tatsächlich zukünftige terroristische Anschläge verhindert oder aber einen Unschuldigen zu einer Haft verurteilt, die ihn wiederum kriminalisieren könnte, ist greifbar und schier unlösbar. Nicht zuletzt darum kreisen zahlreiche Diskussionen in dem Buch:

„Das eigentliche Problem ist dir doch bekannt: Bei Terrorismusverdacht geht man heute von einem antizipierten Straftatbestand aus, das heißt, man nimmt so viele Verdächtige wie möglich frühzeitig fest, man stellt schon die einfache Absicht unter Strafe …“
„Haben sie uns denn eine Wahl gelassen?“
„Ja, ihr Richter habt die Wahl, andernfalls folgt ihr bloß der öffentlichen Meinung, und das wäre dann keine Rechtsprechung mehr, sondern populistische Kriminalpolitik.“ (S. 188)

Diese Unterhaltungen sind spannend. Sie brachten mich dazu, Positionen zu reflektieren, mit denen ich mich bisher noch nicht auseinandergesetzt hatte. Aber auch hier gilt, was ich bereits am Rest des Romans bemängelte: dass gefühlt alles so abstrakt vorgetragen wird, dass ich genauso gut eine Pro-Kontra-Argumentation in der Zeitung lesen könnte. Ich verlor konstant den Faden; als Alma schließlich die Entscheidung trifft, mit der man am Anfang des Buchs konfrontiert wird, war ich irritiert, dass die Konsequenzen wie ein weiterer nahezu belangloser plot point abgehandelt wurden. Das wurde auch zum Ende hin nicht besser – eher im Gegenteil. Selbst jetzt bin ich immer noch am Rätseln, was für eine Geschichte Diese eine Entscheidung eigentlich erzählen will. Gewiss gewährt es diverse Einblicke in die moralischen Konflikte und Schattenseiten, die mit Frankreichs Anti-Terror-Bemühungen einhergehen. Aber das kann ich auch bei einschlägigen Zeitschriften nachlesen. Für einen Roman reichte es nicht.

Fazit

Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, Diese eine Entscheidung als Roman zu bezeichnen. Denn der von telling dominierte Erzählstil und die von abstrakten Diskussionen verdrängte Handlung verhinderten bis zum Ende, dass ich das Verhalten der Figuren nachvollziehen konnte oder mich dafür interessierte, wie es weitergehen würde. In der Theorie ein ungemein spannendes Projekt – in der Umsetzung hat es mich leider sehr enttäuscht.

Diese eine Entscheidung ⚬ übersetzt von Maja Ueberle-Pfaff ⚬ Hardcover: 352 Seiten ⚬ dtv ⚬ 23€ ⚬

Herzlichen Dank an dtv für das Rezensionsexemplar!

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